Die Verbannten der Feldstrasse, Teil 01


In dem es an der Tür klopft und wir ein wenig darüber erfahren, was im letzten Jahr geschehen ist.

Es war der 11. Januar, als Gunnar gegen Mittag das Klopfen an der Tür hörte. Anders als in Zur üblich, verwendete er immer noch den xpochschen Kalender, wenn er nicht gerade Termine mit Kunden aushandelte.
Seit bald einem Jahr lebten Malandro und er nun in dem freundlichen Land, welches ohne die [Dämonen] und Teufel seiner Heimat und auch ohne die Automaten der [Hügelstätte] auskam.
Anfänglich war es den beiden Xpochlern hier schrecklich provinziell vorgekommen, obwohl sie ihren Laden immerhin in der Hauptstadt eröffnet hatten.
Aber das mochte auch mit den Umständen zu tun haben, die sie hierher verschlagen hatten. Nicht nur, dass sie vor ein paar Jahren dabei geholfen hatten, einen Dämon in ihrer Heimatstadt zu besiegen. Sie hatten auch dabei geholfen, einen Mord aufzuklären, Terroristen zur Strecke zu bringen und einen Maschinenmenschen aufzuhalten, ein mächtiges Artefakt für seinen Meister zu rauben.
Danach hatten sie jedoch erheblich ins Klo gegriffen. Interessanterweise nicht nur im übertragenen Sinn, denn um das Artefakt, ein Horn, mit dem man Tote auferstehen lassen konnte, um sie als untote Armee gegen seine Feinde zu schicken, vor dem Zugriff ihrer damaligen Gastgeber zu schützen, hatten sie es kurzfristig in einem Abort verstecken müssen.
Dazu hatten sie auch ihre Gastgeber verärgert und waren des Landes verwiesen worden. Also genaugenommen hatte Tiscio sie verärgert, indem er ihren Aufpassern ausgerissen war und sich mit ein paar Wachen geprügelt hatte, was jetzt auf Seiten Tiscios aktiver klang, als es am Ende war.
Und so waren sie nun in Zur gelandet. Aus den [Hügelstätten] verbannt, weil einer von ihnen nicht aus seiner Haut konnte, und in ihrer Heimat wegen Verrats vermutlich schon zum Tode verurteilt, weil sie das Horn nicht mit nach Hause gebracht hatten.
Denn genauso, wie sie nicht gewollt hatten, dass die [Hügelstätte] diese Macht besaßen, genauso hatte ihnen auch nicht die Vorstellung gefallen, dass ihre Heimat die Friedhöfe leerte, um möglicherweise mit den Nachbarn in den Krieg zu ziehen.
Aber inzwischen liefen die Geschäfte von Gunnar und Malandro ganz anständig, wenn sie auch annahmen, dass sie mit der Herstellung, dem Verkauf und der Vermietung von magiegetriebenen Zweirädern nicht reich werden würden. Gunnar war nur ein einzelner Mann – ein Wort, dass man auf ihn nur wegen dessen, was er erlebt hatte, anwendenden konnten, nicht wegen seines Bartwuchses oder seines Alters. Und ein einzelner Mann konnte nur so viele Zweiräder zusammenschrauben, wie er die Einzelteile aus den Rohstoffen zusammengehämmert, gelötet und geschweißt bekam. Was in diesem Fall bedeutete, dass sie über drei verfügten, die auch noch gewartet werden mussten. Irgendwann würde er Lehrlinge annehmen müssen.
Malandro war zwar ein geschickter Schlosser, aber nach seinen ersten Versuchen hatte Gunnar darauf bestanden, dass sich der ehemalige Magieschüler darauf beschränkte, die Magiebatterien zu bauen, zu laden und das Geschäft zu führen.
Sie waren beide gut genug beschäftigt, dass sie nicht allzu oft Zeit dazu hatten, über all das nachzudenken, was sie hatten zurücklassen müssen.
Malandro, der gerade eine sehr verbotene und sehr geheime Ausbildung zum Magier begonnen hatte, wünschte sich regelmäßig, etwas mehr über die Energien zu lernen, die er nur so unvollkommen zu beherrschen vermochte. Er war inzwischen ziemlich gut darin geworden, sie einfach fließen zu lassen, um die Batterien zu füllen. Auch durfte man nicht geringschätzen, dass er es geschafft hatte, eine solche Batterie überhaupt herzustellen. Immerhin hatte er sein gesamtes Wissen aus der Untersuchung einer explodierten Batterie und dem Befüllen einer intakten gesammelt. Gut, Kol Therond, der hügelstättische Botschafter in Xpoch, Spion, Magier und Ornithopterpilot, hatte ihm den Aufbau auf dem Rückflug von jenem Abenteuer mit dem Maschinenmenschen erklärt. Dennoch war es eine beachtliche Leistung und Apfelhelm Unterschnitt, sein Lehrer in Xpoch, wäre sicherlich stolz auf ihn gewesen. Und zu Malandros Überraschung vermisste er den Dandy noch mehr als seine Ausbildung.
Unterschnitt.
Selbst hier in Zur hatte man von ihm gehört, möglicherweise auch, weil seine Abenteuer in zahllosen Heften auch ins Zurische übersetzt worden waren. Malandro hatte bisher noch nicht herausgefunden, ob der berühmte Ermittler selbst hinter dieser Vermarktung steckte oder ob jemand anderes daran verdiente. Was die Geschichten jedoch niemals erwähnten, war, dass Unterschnitts Erfolge in der Verbrechensbekämpfung nicht alleine auf seinem scharfen Verstand, seiner Intuition und seiner flinken Klinge basierten, sondern auch auf den Zaubern, die er regelmäßig zur Lösung seiner Fälle verwendete.
Aber selbst, wenn dieser Mann kein großartiger Lehrmeister, ein Ehebrecher und im Grunde ein Betrüger war, der, wäre sein Geheimnis entdeckt worden, bestenfalls aus der Stadt verbannt worden wäre, er war in der kurzen Zeit, die Malandro bei ihm gelebt hatte, doch so etwas wie ein Freund geworden.
Das hätte vermutlich ausgereicht, um den Zauberlehrling wehmütig zu stimmen, aber gegen alle Vernunft vermisste er im saubereren Zur, im sicheren Zur, im ordentlichen Zur, den Schmutz, die Gefahr und das Chaos seiner Heimatstadt.
Verglichen mit Gunnar stand er jedoch noch recht gut da.
Der junge Erfinder hatte nicht nur den gut gehenden Laden, den er von seinem ermordeten Vater geerbt hatte, zurückgelassen. Auch seine Mutter musste nun alleine über die Runden kommen und Gunnar war sich sicher, dass sie das nicht lange schaffen würde, ohne das Haus und den Laden zu verkaufen. Außerdem machte sie sich vermutlich furchtbare Sorgen um ihren Sohn, der sich zuerst in unsägliche Gefahr begeben hatte, nur um dann nicht zurückzukommen, obwohl er seine Aufgabe erfüllt hatte. Nur Hetrados konnte wissen, was sie inzwischen über ihn, den Verräter, gehört hatte und wie sie auf den Straßen behandelt wurde.
Und Gunnar glaubte nicht einmal wirklich an den Gott Xpochs.
Dass er sein vielversprechendes Studium hatte aufgeben müssen, wog dagegen nicht einmal so schwer.
Dass er jedoch seine Freundin nie wiedersehen würde, ließ ihn manchmal nachts in Tränen ausbrechen, obwohl er dies Malandro gegenüber niemals eingestanden hätte.
Malandro wusste es trotzdem, auch wenn er nie etwas gesagt hätte.
Es war also gut, dass sie immer so viel zu tun hatten, dass sie kaum an ihre Heimat denken konnten.
Nur in den letzten zwei Monaten war es ihnen nicht möglich gewesen, ihre Gedanken abzulenken.
Zur war von einer Seuche heimgesucht worden, die das gesamte Leben des Landes lahmgelegt hatte. Malandro und Gunnar waren abwechselnd und auch gemeinsam in ihren Betten verschwunden, weil sie immer wieder von Schwächeanfällen heimgesucht worden waren.
Nicht mehr.
Kein Fieber, kein Erbrechen oder Durchfall, keine Schmerzen.
Nur diese lähmende Schwäche.
Auch ihren Gast, den sie seit nun fast einem halben Jahr beherbergten und der wegen seiner Verunstaltung fast nie und dann auch nur nachts das Haus verließ, hatte kaum das Bett verlassen, welches in seinem Fall immer noch aus einer einfachen Matte bestand, die er normalerweise abends in der Küche auslegte.
Es war keine ideale Lösung, aber das Geld, welches sie von den [Hügelstätten] trotz ihrer Ausweisung erhalten hatten, war für anderes ausgegeben worden als ein großes Haus. Und der größte Teil des Hauses war nun mal die Werkstatt.
Außerdem war die Küche der wärmste Raum im Gebäude, vor allem, nachdem kaum noch einer von ihnen die Kraft besessen hatte, regelmäßig Holz oder Kohle zu besorgen.
Deswegen schliefen sie inzwischen alle in der Küche, was auch ökonomisch sinnvoll erschien, da ihnen langsam das Geld ausging. Vermutlich hätten sie es geschafft, weiterhin das eine oder andere Zweirad zu verleihen, indem sich einer von ihnen mühsam aufgerafft hätte, um ein paar undeutliche Worte mit einem Kunden zu sprechen, zitternd die Hand auszustrecken und das Geld entgegenzunehmen.
Aber es war niemand mehr gekommen, weil die Menschen entweder genauso krank waren oder sich um ihre Kranken kümmern mussten.
Seit Anfang des Jahres schien es jedoch bergaufzugehen. Zumindest für Gunnar und vielleicht auch ihren Gast. Mit 10 Tagen hatte der junge Erfinder die längste, ununterbrochene Zeit ohne Symptome seit dem Beginn der Krankheit und auch auf den Straßen schien es wieder mehr Geräusche zu geben.
Malandro lag immer noch nur auf seiner Matte und blickte seine Mitbewohner aus rot geränderten Augen mitleidheischend an. Aber bei ihm hatte die Krankheit auch später eingesetzt, was es vielleicht erklärte.
Oder auch nicht. Gunnar hatte in seinen jungen Jahren schon eine Menge gelesen und studiert. Medizin gehörte jedoch nicht dazu und das, was einem das Leben in einer großen Stadt über Krankheiten beibrachte, schien hier nicht zu gelten.
Als es nun klopfte war Gunnar daher der einzige im Haus, der sich sicher auf den Beinen halten konnte. Da sie kaum Freundschaften geschlossen hatten, ihre Steuern bezahlt waren und er gerade vor der Tür gefegt hatte, konnte es eigentlich nur bedeuten, dass sie endlich wieder einen Kunden empfangen konnten.
Deswegen war er voller geschäftstüchtiger Vorfreude, als er die Tür öffnete.
Sein Lächeln verschwand jedoch augenblicklich, sobald er sah, wer vor ihm stand.
Es dauerte einige sehr lange Sekunden, bis das erste Wort gesprochen wurde.
„Hallo, Gunnar.“
„Tiscio.“ Während der junge Besucher es mit einem schüchternen Lächeln versuchte, hatte Gunnars Gesicht jede Freude eingebüßt.
„Kann ich reinkommen?“ Gunnar antwortete nicht sofort, sondern betrachtete den jungen Mann vor sich aufmerksamer. Ihn ‚Freund‘ zu nennen, brachte er derzeit nicht fertig. Nach einer unangenehm langen Pause nickte er schließlich und gab die Tür frei.
Anschließend lotste er ihn über den schmalen Flur vorbei an der Küche in die Werkstatt, die zwar kalt aber dafür frei von Kranken war.
Aber auch hier war es leichter zu schweigen, als nach den richtigen Worten zu suchen. Also betrachtete Gunnar nur seinen Gast, während jener die magisch betriebenen Zweiräder begutachtete.
„Ist das euer Laden? Ich meine deiner und Malandros?“ fragte Tiscio schließlich, ohne seinen Blick von Gunnars Erfindungen zu nehmen.
„Gemietet. Kostet ein Heidengeld.“
Erneut trat Stille ein, bis Tiscio die nächste Frage stellte. Selbst Gunnar, der erst seitdem er die Feldstraßler kennengelernt hatte, sozialen Umgang pflegte, begriff, dass sein Gast sich vor der eigentlichen Frage drückte.
„Seid ihr auch krank gewesen.“
Gunnar nickte. „Malandro ist es immer noch. Ich bin wohl durch. Und du?“
„Drei Monate.“
„Das ist lang.“
„Vor allem, wenn du in Gräben und neben Viechern schläfst.“ Tiscio betrachtete weiter die Zweiräder, weil er nicht wagte, den anderen anzusehen. Er wusste nicht, was er mehr gefürchtet hätte, in dem Gesicht zu sehen, Mitleid oder die Gleichgültigkeit, die mit der Überlegung einhergegangen wäre, dass Tiscio es sich selbst eingebrockt hatte.
Tatsächlich ging beides durch Gunnars Kopf, aber sein Mitleid überwog. Trotzdem blieb er still. Zumindest für eine Weile, bis er es nicht mehr aushalten konnte, und die Frage stellte, die ihn umtrieb, seitdem er die Tür geöffnet hatte.
„Was treibt dich hierher, Tis?“
Der angesprochene blickte kurz zu seinem Freund, dann auf seine Füße.
„Ich habe keine Frühlingskönigin gefunden. Aber ich habe jemand anderen getroffen. Der meinte, dass die Kacke am Dampfen ist.

Die Verbannten der Feldstrasse