Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 11


Nachdem Gunnar Tiscio stehengelassen hatte, war er ohne Umwege nach Hause gegangen. Auf dem Weg war seine Stimmung immer düsterer geworden. Wieder und wieder musste er daran denken, wie er seinen Vater gefunden hatte. Das Bild hatte sich schon den ganzen Tag immer wieder über alles gelegt, was mit dem Mord des Professors zu tun hatte und er konnte kaum noch sagen, welchen Toten er sah, wenn das rote Blut erneut durch seine Gedanken tropfte.
Als er sein Zuhause betrat, stellte er fest, dass seine Mutter noch nicht wieder von ihrer Arbeit zurück sein konnte. Es war ihm Recht so. Er hätte ein Gespräch mit ihr kaum ertragen. Seit dem Mord an ihrem Mann hatte sie immer versucht, stark für ihn zu sein. Es war jedoch für ihn unmöglich, die Trauer und Verzweiflung unter ihren starren Zügen zu übersehen. Deswegen beschränkten sich ihre Gespräche fast nur noch auf das Notwendigste, während beide doch das Bedürfnis verspürten, dem anderen beizustehen und den Kummer zu teilen.
Er warf sich sein Arbeitszeug über und ging in die Werkstatt, die immer noch die seines Vaters war, obwohl er hier seit zwei Monaten alleine für den Großteil ihres Unterhalts sorgte. Träge begann er damit, sein dampfgetriebenes Zweirad aufzubocken. Doch gerade als er den zwölfer Schraubenschlüssel in die Hand nahm brachen die Tränen aus ihm heraus. Er sackte auf die Knie und fiel aus der Zeit, während das Schluchzen seinen Körper schüttelte.
Als er sich wieder erheben konnte war nicht mehr an die Arbeit an seinem Gefährt zu denken. Er begann damit, den Arbeitstisch aufzuräumen. Während er den Kasten mit dem Uhrmacherwerkzeug in die Hand nahm, zwängte sich ein Schrei aus seiner Kehle und er konnte sich nur beruhigen, indem er gegen den freistehenden Besenschrank trat, der unter lautem Scheppern umkippte. Ernüchtert betrachtete er seine Umgebung, bis sein Blick an seiner ersten Erfindung hängen blieb. Eilig ließ er die Hebebühne wieder herunter, füllte den Tank mit Wasser, zündete den Boiler an und öffnete das Tor. Er schob sein Zweirad hinaus, schloss das Tor, setzte sich seine Schutzbrille und die lederne Schutzkappe auf und begann langsam die Zirklergasse Richtung Norden zu fahren. Die wenigen Anwohner, die zu dieser Tageszeit die Muße besaßen, auf der Straße zu stehen, blickten sich nach dem lauten Geräusch um, während er immer mehr Fahrt aufnahm.
Als er um den Markt herumfuhr, das gewaltige Zentrum Xpochs, Kaufhaus und zentraler Knotenpunkt der Schienen in einem, war er bereits so schnell, dass die Menschen aus dem Weg sprangen, sobald sie seiner gewahr wurden.
Immer weiter fuhr er, durch die Gerberreihen, durch den aufgebrochenen Bogen des Warmsyntors, über das, was einmal ein Fluss gewesen war und jetzt nur noch Gresgorgraben hieß. Nicht einmal auf den vielbefahrenen Straßen zwischen den Fabrikgeländen wurde er langsamer. Er fuhr so weit, dass er die Stadt und ihren Rauch hinter sich nicht mehr sehen konnte. Erst als das Feuer nach neuer Nahrung schrie, hielt er an, schob sein Gefährt an den Straßenrand und betrachtete die Welt um sich herum. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so fern der Stadt gewesen zu sein. Noch weniger konnte er sich eines Lebens außerhalb von Rauch, Ruß und Gestank entsinnen. Sein Blick fiel auf Felder und Wälder, deren Farben so viel heller und sauberer waren, als alles, was man in der Stadt zu Gesicht bekam. Von irgendwoher war das Plätschern eines Baches zu hören, Vögel sangen und die Sonne machte alle Konturen scharf und klar.
Er zwang sich, einen tiefen Atemzug zu nehmen. Für einen Moment befürchtete er, dass die frische Luft erneut seine Tränen aufwühlen würde. Mit dem Gift der xpochschen Luft verließ ihn jedoch auch ein Teil seiner Verzweiflung. Er setzte sich auf eine Mauer und ließ seine Gedanken schweifen, die hier draußen auf dem Land viel öfter zu angenehmeren Dingen zurückfanden als in der Stadt.
Zwei Stunden mochte er so dagesessen haben, als er sich endlich wieder aufraffte. Fast schon belustigt bemerkte er, wie seine Haut spannte. Er sinnierte etwas wehmütig über den Sonnenbrand, der ihm in den nächsten Tagen den Spott seiner Freunde einbringen würde.
Ruhiger im Geist schwang er sich wieder auf sein Dampfzweirad und fuhr gen Heimat, was immer dies auch ohne seinen Vater bedeuten mochte. Vielleicht fand er später einmal eine neue Definition.

Das hätte der leidlich zufriedenstellende Abschluss des Tages sein sollen, wenn ihn in Sichtweite der Stadt nicht ein Leck im Tank einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Kurz war er am Überlegen, ob er den Behälter mit Spucke füllen sollte, aber seine Kehle war genauso trocken wie seine Blase. Zu seinem Unglück fand er auch zwischen den Feldern so nahe bei der Stadt keinen Bach mehr und alle Entwässerungsgräben am Wegesrand waren in den letzten heißen Tagen zu Matschpfaden verkommen. Mit der richtigen Ausrüstung hätte er sicherlich Wasser und Erde trennen können, aber selbst sein Erfindungsreichtum reichte nicht aus, um seiner Ungeduld Stand zu halten. Also schob er die schwere Maschine auf Rädern. Es war ja nicht mehr weit. Ein Fußmarsch, wie er ihn in den letzten Jahren oft durch die Stadt gemacht hatte.

Als er endlich am Gresgorgraben angelangte, zeugte seine Kleidung davon, dass sein Körper doch noch mehr Flüssigkeit enthalten hatte, als ihm ursprünglich bewusst gewesen war. Angesichts der grinsenden Gesichter, die ihm von allen Seiten zu sagen schienen, dass es wohl doch nicht so weit mit seinem Erfinderkönnen bestellt war, entschloss er sich zu einer radikalen Maßnahme, kroch die glitschigen Wände der Grabenwand hinunter und schöpfte mit der Schutzkappe das stinkende Wasser. Dies war das erste Mal, dass er seiner Mutter dankbar dafür war, dass sie darauf bestanden hatte, dass er für seine Fahrten einen Kopfschutz trug.
Er musste den Weg mehrfach hinunter- und wieder hinaufklettern, bis sein Tank ausreichend gefüllt war. Seine Hände und die Kappe waren mit einem grünen schleimig-öligen Film überzogen und das Leder an seinen Stiefeln fühlte sich an, als würde es sich auflösen. Er hing die Kappe an den Lenker und betete innständig zu welchem Gott oder Geist sich für Dampfmaschinen verantwortlich fühlen mochte, dass ihm seine Maschine nicht unter dem Hintern explodieren würde. Der Schmutz in dem Wasser würde sich allzu schnell ablagern und den Boiler anfällig für Überhitzung machen. Er wagte es trotzdem, denn seine Arme und sein Rücken schmerzten inzwischen genug, dass er die Risiken zu ignorieren bereit war.
Sobald das Feuer brannte, lauschte er auf das Wasser, bis es heiß genug war. Er schwang sich in den Sattel und fuhr gemächlich an.
Er erreichte die Zirklergasse ohne Zwischenfälle und war nicht wenig erleichtert, als er die Flamme wieder löschen konnte. Als guter Handwerker reinigte er seine Erfindung gewissenhaft und richtete sogar den Schrank wieder auf. Als erschöpfter jugendlicher riss er sich die Schuhe von den Füßen und warf sie gemeinsam mit der Kappe in eine Ecke des Arbeitsraums, wo er sich vielleicht morgen um sie kümmern würde. Anschließend wusch er sich an der Pumpe in der Straße gründlich Kopf, Hände und Füße, bevor er sich in sein Bett verkroch, wo er sofort in tiefen Schlaf fiel, ohne einen Traum zu träumen, an den er sich am nächsten Morgen erinnern konnte.

Die Jungen aus der Feldstrasse