Die Brennerbande, Teil 85


Gunnar und Tiscio erreichten ihre Schule erst zur zweiten Pause. Sie fingen sich eine gehörige Standpauke und einen Batzen Strafarbeiten ein, aber Gunnar versicherte seinem Freund, dass er die schon schnell hinkriegen würde.
Sie hatten eine Menge verpasst und Tiscio fiel es schwer, dem Unterricht zu folgen. Gunnar hingegen schien sich eher zu langweilen, da er die Aufgaben des Rechenunterricht innerhalb von Minuten abgearbeitet hatte. Als nächstes schwadronierte ihre Lehrerin über die glorreiche Geschichte des xpochschen Imperiums vor dem Oravahl-Krieg. Soweit der Feldstraßler es verstanden, hatte es jedoch vor dem Krieg kaum etwas gegeben, dass man als Imperium hätte bezeichnen können. Seinem Gefühl nach war das Königreich Xpoch noch vor 100 Jahren zu klein für diesen Namen gewesen.
Nachdem, was Gunnar ihm später auf dem Heimweg erzählte, war auch nicht so klar, wie Ruhmreich diese Geschichte tatsächlich war, die man immer zu hören bekam.
Die Hausaufgabe, die sie bekamen, hatte allerdings selbst Tiscio schon einmal gemacht. Jedes Kind in Xpoch musste sie jedes Jahr um diese Zeit machen. Es lag an einem der seltsamsten Feiertage, den es in Xpoch und vermutlich überall auf der Welt gab: dem Versuchungstag.
Vor langer Zeit, das heißt, zu einem Zeitpunkt der vor der Geburt der Eltern der Feldstraßler lag, hatten die Stadtväter Xpochs mit den Dämonen, die die Straßen unsicher machten und das Seelenheil der Bewohner gefährdeten, einen Vertrag geschlossen. Man hatte sich darauf geeinigt, dass die Menschen davon absehen würden, die [Dämonen] zu verfolgen, diese jedoch nur noch an einem Tag im Jahr ihrerseits den Menschen schaden zufügen dürften. Aber selbst an diesen Tagen durften die [Dämonen] Häuser nicht betreten, ohne dazu eingeladen worden zu sein.
Die Straßen von Xpoch leerten sich am Abend des 9. Oktober, alle Geschäfte schlossen, die Schienen stellten ihren Verkehr ein. Niemand wagte sich mehr vor seine Haustür, selbst Bertis und Soldaten blieben zuhause. Nur die unmenschlichen Gestalten der niederen und die zu verführerischen Formen der höheren [Dämonen] sowie einige Verrückte oder Verzweifelte durchstreiften die Stadt. Damit auch niemand nach Xpoch hineingelangen konnte, wurden alle Straßen schon Kilometer vor der Stadt gesperrt. Selbst die Küste wurde von Wachtschiffen patrouillierten, damit nicht irgendein unwissender Kapitän sich in den Hafen verirrte.

Jetzt saßen Gunnar und Tiscio am Küchentisch und machten ihre Hausaufgabe. Sie sollten all Dinge auflisten, mit denen sie sich gegen [Dämonen] verteidigen könnten. Sie kannten die wohlbekannten Antworten, denn sie änderten sich nicht mit den Jahren:

- Weihwasser
- Ein starker Glauben
- Gebete
- Bann-Rituale der Hetradoniden
- Das Sonnensymbol der Hetradoniden
- Feuer

Sie ahnten beide, dass Magie wohl auch helfen würde, waren sich allerdings sicher, dass die Lehrerin diese heidnischen Praktiken genau so wenig als richtige Antwort akzeptieren würde wie Salz, Pentagramme und die Nennung einiger Kräuter, die einige alte Leute über ihre Türen und Fenster hängen hatten. Es war eher so, dass man sich damit richtig viel Ärger einfangen konnte.
Die anderen hatten sich zu ihren Freunden gesellt und scherzten über weitere Möglichkeiten, mit einem Dämon fertig zu werden. Dabei vermischten sie alle Fabelgeschichten, die sie jemals gehört hatten. Nur Walde saß still an ihrem Platz und malte auf einer Schiefertafel, die sie von Herrn Unterschnitt erhalten hatte.
"Pflock durchs Herz."
"Ne, das sind die Blutsauger."
"Du meinst Vermieter?"
"Wie wärs mit Salz ums Bett?"
"Was solln' das machen? Krümel an'ne Füße?"
"Ein Schwert aus Gold. Das wär doch groß."
"Nein, wäre zu weich. Gold biegt sich sofort." Gunnar schaute nicht einmal auf, während er sein Blatt ansah.
"Silber geht dann ja auch nich'", nahm Walter den Faden auf und die anderen mussten nicht lange warten, bis Tiscio "Kupfer könnten wir nehm'. Silber ist doch für Wolfsmenschen."
"Tatsächlich muss ich bermerken, dass Silber gute Dienste gegen einige der Unholde leistet." Die Feldstraßler blickten erschreckt zur Treppe. Für einen langen Moment, war nur Waldes Griffel auf ihrer Tafel zu hören.
"Und wenn ich noch hinzufügen darf, kalt geschmiedetes Eisen hilft gegen jene, die eine Immunität gegen Silber besitzen."
"Herr Soldrang ..." Malandro setzte an, war aber zu erstaunt, um den Satz zu ende zu bringen. Deswegen übernahm Walter: "Herr Soldrang, woher wissen sie das?"
"Um die Wahrheit zu sagen, waren Herr Unterschnitt und meine Wenigkeit vor eurer Zeit an der Niederschlagung einiger Unrhuhen beteiligt. Es war eine unschöne Angelegenheit." Der Buttler richtete sich zu seiner vollen Größe auf, wozu er einen Schritt aus dem Aufgang in die Küche machen musste. Er hielt sich immer aufrecht, aber jetzt schienen die Schultern noch ein wenig weiter zurück gelegt und der Kopf noch ein wenig höher erhoben zu sein.
"Wie jetzt? Sie haben gegen [Dämonen] gekämpft", fragte Tiscio die Frage, die allen auf der Zunge lag.
"Ich tat meine Pflicht, wie jeder gute Bürger Xpochs es in meiner Situation getan hätte."
"Haben sie welche getötet?"
"Ich habe meinen Beitrag geleistet." Mit nur einer kleinen Verlagerung des Gewichts änderte Soldrang seine Haltung dermaßen, dass den Feldstraßlern klar wurde, er würde nicht weiter auf diese Frage antworten.
"Soll'n wir das jetzt schreiben?" Tiscio blickte hilfesuchend zu Gunnar.
"Ich glaube nicht, dass wir dafür Extrapunkte bekommen."
"Herr Soldrang, vielleicht wissen sie, was sonst noch alles gegen [Dämonen] hilft." Tiscio nahm seinen Zettel und begann vorzulesen: "Wir haben schon Gebete, das Symbol der Sonne, Weihwasser, Feuer und ein starker Glaube."
"Her Canil, es tut mir leid, ihnen das dies mitzuteilen, aber meiner Erfahrung nach, zeigen weder Ikonographie noch Rituale Wirkung gegen die Unholde. Ich würde sogar behaupten, und ich vertraue darauf, dass dies zwischen den jungen Herren und mir bleiben wird, sie waren eher hinderlich."
Die Feldstraßler waren geschockt. Noch nie hatten sie einen ehrbaren, nüchternen Erwachsenen so sprechen gehört. Gunnar war nicht der am wenigsten erstaunte, aber der Einfluss seiner Freunde hatte einen schlechten Einfluss auf seine Zurückhaltung.
"Haben sie wirklich gerade gesagt, dass Glaube sinnlos ist?"
"Vilets Glaube nich'."
Waldes kleine Stimme erhellte den Raum, in dem alle auf Soldrangs Antwort gewartet hatten.
"Ja, Walde, bestimmt", sagte Malandro, aber Tiscio hatte zu viele seltsame Dinge mit Vilet und Walde erlebt, um irgendetwas zwischen den beiden auszuschließen.
"Warum Walde? Warum meinst du, dass Vilets Glaube hilft?"
"Weil er's tut."
"Walde, dass hilft nich'."
"Doch das hilft."
"Ich mein, davon wissen wir nich', warum du's sagst."
"Weil's stimmt."
"Hast du es gesehen."
Wald nickte. Eigentlich erstaunte es keinen, trotzdem mussten sie Waldes Aussage verdauen.
"Und was hast du gesehen?"
"Na, dass sie ein Hornmonster verscheucht hat."
"Und wie hat sie das getan, Walde?"
"Sie hat mit dem Finger gezeit, und er war weg." Die Feldstraßler wurden unruhig.
"Weggelaufen, oder?"
"Nein, war weg, einfach."
"Das is' doch quatsch."
"Frau Friedschiker und Frau Hereler wissen das auch."
"Waren die dabei?"
"Ne, aber die wissens's."
"Woher soll'n se's denn dann wissen?"
"Weil se's mir gesagt ham."
"Wann?"
"Jetzt. Sie stehn doch da."

Die Kinder aus der Feldstrasse, 04