Die Brennerbande, Teil 64


In diesem Augenblick erschien Herr Unterschnitt am Eingang der Gasse. Er sah sich einmal um, bevor er zu sprechen begann: "Ich höre, dass es hier eine kleine Hellseherin gibt. Ist es nicht so?"
Walde versteckte sich erneut hinter Walter, der vergeblich versuchte, sie gegen Kargerheim und Unterschnitt abzuschirmen.
"Sie sehen sie auch, nich?" Waldes Stimme war wieder sehr leise, Unterschnitt hatte sie jedoch gehört und nickte mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen.
"Wie ich." Walde klang erleichtert. Unterschnitts Lächeln wich einem Ausdruck des Bedauerns. "Nein, nicht wie du. Ich bin ein Magier. Deshalb: Pssst." Dabei hob er einen Zeigefinger an die Lippen, verständlicherweise. Jeder wusste, dass es Magier in Xpoch gab, so wie jeder wußte, dass es [Dämonen] gab. Für die meisten Menschen bestand zwischen beiden kein Unterschied, denn wenn die Magier vielleicht nicht direkt dämonische Dinge taten, so standen sie doch immer mit ihnen im Bund. Vilet konnte man eine Menge verzeihen, weil niemand sicher war, ob sie wirklich Zauberei verwendete. Walde hingegen war eine Freundin und Schwester, zudem ein kleines Mädchen, dem man eine Menge Unsinn durchgehen ließ, auch wenn dass, wie man in der Schule hatte sehen können, wohl nicht für alle galt. Außerdem hatten die Bandenmitglieder inzwischen begonnen, sich an ihre seltsamen Fähigkeiten zu gewöhnen, selbst wenn es ihnen immer noch unheimlich war. Magier waren jedoch etwas anderes und es wäre ihnen im Leben nicht eingefallen, Walde oder Vilet mit ihnen gleichzusetzen. Herr Unterschnitt war berühmt. Er war der große Detektiv. Er hatte ihnen geholfen. Aber er war kein kleines Mädchen und auch kein Freund. Und wenn sie es genau durchdachten, dann war es immer Kargerheim, der ihnen letztendlich geholfen hatte. Wie sollte das aufwiegen, dass er ein Magier sein sollte, nein: ein Magier war. Die Feldstraßler verkrampften sich und wurden gleichzeitig unruhig. Nur Walde blickte den großen dünnen Mann ohne Furcht an.
"Herr Unterschnitt ist ein guter Mann." Kargerheims Stimme war voller Autorität, eindringlich, aber nicht laut. "Und er ist ein sehr kluger Mann. Aber glaubt ihr, wir hätten eure Freundin vor ein paar Monaten gefunden, wenn er nicht seine Talente eingesetzt hätte?" Als die Jungs sich nicht entspannten, fügte er hinzu: "Beruhigt euch. er ist auf eurer Seite."
Malandro war der erste, der etwas lockerer wurde. "Is gut, wir sind ja keine Idioten."
Augenblicklich rissen sich auch die anderen zusammen.
"Danke, mein Freund." Das Lächeln war wieder auf Unterschnitts Gesicht aufgetaucht. "Ich kann euch versichern, dass ich weder euch noch irgendjemand anderem etwas Böses zu leide tun will." Er trat näher an sie heran. "Dann sag mal Walde, was ist so wichtig, dass du mich beinahe den Priestern übergeben hast?"
"Ganz viele von Vilets Freunden sind gestorben." Unterschnitt blickte fragend zu Kargerheim. "Vilet ist die Priesterin, die sich als Frühlingskönigin bezeichnet," was Unterschnitt mit einem knappen Nicken quittierte. Er hockte sich vor das kleine Mädchen, das sich inzwischen wieder an die Seite ihres Bruders gestellt hatte.
"Meinst du, sie sind bei den Anschlägen ermordet worden?" Auch Walde nickte nur.
"Warum glaubst du, dass auch du getötet werde könntest?"
Als Walde nicht antwortete, schaltete sich erneut Kargerheim ein: "Sie behauptet, dass 17 der Anhänger der Priesterin bei den Anschlägen getötet worden wären."
"Und sie wird einmal Frühlingskönigin." Anders als sein Bruder hatte Walmo inzwischen einen seltsamen Stolz auf die Fähigkeiten seiner Schwester entwickelt.
"So so." Unterschnitts Lächeln bekam etwas Wissendes. Er stand auf und unterhielt sich kurz mit seinem Kollegen.
Kargerheim löste sich und kam zu ihnen zurück. "Es ist wohl besser, wir gehen zu Herrn Unterschnitt nach Hause. Wir können hier nicht mehr viel tun."

Die Hoffnung, den Weg zurück in einer Kutsche zurücklegen zu können, erstarb, als die Feldstraßler bei der Kutschentür ankamen und sie vor ihrer Nase zugeschlagen wurde.
Allerdings flog sie gleich darauf wieder auf und Kargerheim winkte sie herein. Es fanden allerdings nur noch Walde, Malandro und Gunnar Platz in der Kabine. Wollten die anderen nicht laufen, mussten sie sich irgendwo festhalten oder gleich auf dem Dach platznehmen.
Besonders auf dem Dach war es nicht übermäßig bequem und die Jungs waren kräftig durchgerüttelt, als die Kutsche vor dem Haus in der Konditorgasse hielt. Walter fluchte laut, als er sich auf die Straße hinunter ließ und musste sich dafür einen missbilligenden Blick vom Buttlertyp gefallen lassen, der bei Ankunft der Kutsche die Tür geöffnet hatte. Die drei aus der Kutsche konnten ihre Freunde nur angrinsen. Walter gab Gunnar einen Stoß, aber dadurch fühlte er sich auch nicht besser.
Bald fanden sie sich ein weiteres Mal in dem Kaminzimmer wieder. Unterschnitt und Kargerheim gesellten sich kurz Zeit später zu ihnen, nachdem sie ihre Straßenjacken abgelegt hatten.
Der Buttlertyp brachte einen Gebäckteller und wenig später auch eine Kanne mit Panas herein. Der Teller war jedoch leer, bevor der Mann das Zimmer wieder verlassen hatte, weswegen Unterschnitt ihn erneut losschickte.
"Wollen wir noch einmal beginnen, Walde?" Herr Unterschnitt blieb in seinem Sessel sitzen, richtete jetzt aber seine gesamte Aufmerksamkeit auf das kleine Mädchen.
"Oder wollen wir erst einmal überlegen, warum du glaubst, dass die Anschläge gegen eure Frühlingskönigin gerichtet sind?"
"Die Toten sagen es?"
"Und warum sollten sie lügen, nicht wahr?" Unterschnitt überlegte kurz: "Soldrang?" Augenblicklich erschien der Buttlertyp im Zimmer.
"Herr?"
"Soldrang, guter Mann, holen sie mir bitte mein blaues Glas." Nachdem Soldrang das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Unterschnitt wieder an Walde. "Ich will doch mal sehen, ob ich deine Geister auch sehen kann, wollen wir nicht?"
Das Zimmer blieb in Schweigen gehüllt, bis Soldrang zurückgekehrt war und seinem Herrn mit beiden Händen einen dunkel lackierten Holzkasten reichte. Unterschnitt ließ den kleinen Verschluss an der Vorderseite hochschnappen, klappte den Deckel hoch und die Front nach vorne und nahm eine reich verzierte Lupe mit einer blauen Linse heraus. "Ah, die Frucht präziser Arbeit." Er hauchte die Lupe an und putzte sie mit einem Tuch aus der Kiste, bevor er sie in die Höhe hielt, und seine Umgebung betrachtet.
"Könnt ihr mich verstehen?" Walmo wollte schon Antworten, bevor sein Bruder ihn zurückhielt.
"Ich sehe." Unterschnitt zögerte. "Seid ihr der Meinung, dass man euch umgebracht hat, weil ihr an die Frühlingskönigin glaubt." Erneut wartete er und senkte schließlich den Kopf. "Sie schütteln den Kopf, Walde."
Walde blickte sich um und klang etwas beleidigt, als sie die Luft fragte: "Aber ihr habt doch gesagt, dass sie euch wegen Vilets umgebracht haben."
Unterschnitt sah einen Augenblick lang verwirrt in den leeren Raum. Schließlich machte sich Erstaunen und letztendlich Amüsement auf seinem Gesicht breit. "Wie drollig. Gestolpert über meine eigenen Fragen. Man muss immer aufpassen, was man fragt, nicht wahr? Gut aufgepasst, meine kleine Hellseherin." Er legte seine Lupe wieder in das Kästchen und verschloss es vorsichtig.
"Herr Kargerheim, auf ein Wort." Die beiden Männer verließen das Zimmer. Walter und Walmo gingen, sobald sich die Tür geschlossen hatte, zu ihrer Schwester und nahmen sie in den Arm. Sie waren mächtig stolz auf sie. Die anderen unterhielten sich mit gesenkter Stimme, wobei sie jegliche Erwähnung von Toten und Geistern vermieden.
Kurz nachdem Buttlertyp Soldrang ihnen erneut Gebäck gebracht hatte, kamen der berühmte Detektiv und sein Kollege zurück.
"Mein sehr geehrter Kollege und ich haben uns entschlossen, euch hier für ein paar Tage aufzunehmen." Unterschnitt blickte in die Runde. "Wir beabsichtigen andere Anhänger der Frühlingskönigin zu warnen, wenn wir sie schon nicht alle hier her holen können."
"Und was ist mit meiner Familie?" Es platzte aus Tiscio heraus. Unterschnitt sah Kargerheim an, dessen linker Mundwinkel ein kleines Lächeln zeigte. "Wir werden einen Boten schicken, der sie hierher bringt," sagte Kargerheim, "Bevor wir dies jedoch tun, wäre es gut, wenn ihr uns die anderen Anhänger nennen könntet."

Und so geschah es. Im Laufe der nächsten Stunden trafen Tiscios Mutter und seine Geschwister in der Konditorgasse ein. Soldrang richtete die Gästezimmer her und die Feldstraßler verteilten sich. Selbst Gunnar blieb im Haus, nachdem Tiscios Mutter berichtet hatte, dass der Bote, der sie benachrichtigt, auch Gunnars Familie Bescheid gesagt hatte.
Tiscios Mutter entfuhr ein „oh“, als sie in ihr Zimmer geführt wurde. Die feine Wäsche und sauberen, hübsch ausgestatteten Zimmer waren besonders für sie und die Mädchen bezaubernd, aber schließlich waren nicht nur die Jungs, erschöpft von Arbeit und Märschen, eingeschlafen, sondern auch alle anderen.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 03