Die Brennerbande, Teil 60


"Aber wieso tun sie so etwas?"
"Darüber kann ich nicht viel sagen. Da sprecht ihr besser mit euren Lehrern. Oder vielleicht mit der Wacht. Ich muss jetzt wirklich los." Seine Frau half ihm in die Jacke und er verließ sein Haus noch vor den Feldstraßlern.

Es war halb acht, als sie ein Wachtgebäude erreichten. Der Berti hinter seinem Tresen war überraschend freundlich, musste ihnen jedoch erklären, dass er nichts über eine Frau Freifrieder wusste. "Das heißt aber nichts. Die Anzeigen gehen von der Wachtstelle, in der sie angenommen wurden, zur Hauptwacht. Von dort kommen regelmäßig alle Auskünfte über die Verhaftungen an alle Stellen zurück. Es kann aber auch mehrere Tage dauern."
Walmo stöhnte laut, als ihm und seinen Freunden klar wurde, dass ihre Wanderungen für den Abend sie noch weiter vom Bett fortführen würden.

Das Hauptgebäude der Metrowacht stand neben dem Marktzentrum, war aber von der Explosion unbeschadet geblieben. Der anschließende Brand hatte jedoch das ehemals weiße Gebäude grau gefärbt.
Die Feldstraßler waren schon öfter auf einer Wacht gewesen, meist unfreiwillig. Ihre Besuche in den kleinen Räumlichkeiten, die für gewöhnlich von nicht mehr als fünf Bertis besetzt waren, hatten sie nicht auf die gewaltigen Hallen der Hauptwacht vorbereitet. Es war inzwischen acht Uhr Abends und die Bertis waren immer noch geschäftig in dem Gebäude. Mindestens 20 Raupenhelme hingen an einer Wand hinter dem Tresen und es war Platz für mindestens 40 weitere. Der Tresen war von drei Bertis besetzt und der Verkehr von Bürgern und Bertis, den sie zu bewältigen hatten, ließ nicht den Eindruck entstehen, dass sie sich langweilen würden.
Trotzdem mussten die Feldstraßler nicht lange Warten, bis die Reihe an sie kam.
"Und was kann ich für sie tun?" Der Berti klang erschöpft, aber er schien sich Mühe zu geben, trotzdem freundlich zu bleiben. Malandro trat vor.
"Wir suchen nach einer Frau. Tiscio hier," faßte Tiscio an der Schulter, "wohnt mit seiner Familie bei ihr. Wir müssen wissen, was mit ihr passiert ist."
"Wollen sie sie als Vermisst melden?"
"Ehm, eigentlich haben wir gehört, dass sie verhaftet wurde."
"Wie ist der Name dieser Frau?"
"Vilet Freifrieder."
"Kann nicht sagen, dass ich den Namen kennen würde, aber das heißt ja nichts." Er drehte den Kopf und brüllte durch eine Tür nach hinten: "Gerten? Kuck Mal nach Freifrieder, Vilet." Er drehte sich wieder zu den Feldstraßlern: "Wann wurde sie verhaftet?" Tiscio lehnte sich gegen den Tresen: "vor zwei Tagen."
"Kuck von dreizehntem bis sechzentem."
"Freifrieder sagst du?" kurze Pause., "das ist einfach: Häresie. Anonyme Anzeige. Ist an die Tempelwacht gegangen. Noch keine Retour."
Der Berti am Tresen wandte sich ihnen wieder zu. "Da können wir nicht viel tun. Die Tempelwacht lässt sich immer viel Zeit damit, uns Bericht zu erstatten."
Wäre es möglich gewesen, Tiscio hätte sich noch weiter gegen den Tresen gelehnt. "Und was sollen wir jetzt tun?"
"An Ihrer Stelle würde ich nach Hause gehen und warten. Für gewöhnlich werden Häresiefälle nach ein paar Tagen abgewiesen. Und selbst, wenn es zu einer Verhandlung kommt, besteht immer noch die Möglichkeit, dass es glimpflich ausgeht. Auf jeden Fall können sie nicht viel tun, wenn sie wirklich im Tempel ist."
"Und wie finden wir das raus?"
"Die Tempelwacht ist zwar nicht so wie wir zur Auskunft verpflichtet, aber Fragen schadet nicht. Kann ich ihnen sonst noch behilflich sein?"
Tiscio löste sich vom Tresen und die fünf wechselten Blicke. Malandro schüttelte den Kopf. "Danke sehr."

Sie verließen die Wacht und gingen erst einmal zwei Straßen weiter. Ihr Besuch bei der Hauptwacht war nicht unangenehme gewesen, trotzdem war ihnen immer noch nicht wohl, so vielen Bertis so nahe zu sein.
"Morgen ist Schule." Gunnar wusste, dass diese Worte nicht viel Eindruck bei den anderen machen würden, es hatte ihm aber auf der Zunge gelegen.
"Und?" Walter war müde und reichlich entnervt von den dauernden Wanderungen durch die Stadt
"Naja, wir sollten langsam mal nach Hause gehen."
"Es ist doch noch nicht einmal neun durch."
Wieder kam ein stöhnen von Walmo.
"Gunnar hat Recht. Lass uns nach Hause gehen."
"Aber die Tempelwacht ist nicht weit."
"Wir müssen auch wieder zurück. Das macht es doppelt so weit."
"Kommt schon!"
"Wir rennen seit Tagen wegen Vilet rum. Kann ja verstehen, dass du sie wiederhaben willst. Aber wir haben noch Arbeit nebenher."
"Ich weiß ja. Aber ich kann nich still sitzen."
"Walter hat recht. Das macht kaputt. Mein Meister hat heut schon gesagt, dass ich fahrig bin. Keine Ahnung, was er damit meint, aber es hörte sich nich gut an, wie er‘s sagt."
"Dann geht halt. Ich geh auf jeden Fall noch zum Tempel."
"Dann. Morgen? Feldstraße?"
"Können auch gleich zu Kargerheim. Ihm sagen, dass Vilet beim Tempel ist."
"Gut. Dann."
Nur Gunnar blieb bei Tiscio, während sich die anderen auf den Weg machten.
"Ich kann auch gleich bei dir bleiben, oder?"

Der Weg durch die Altstadt war vermutlich einer der angenehmsten des Tages. Weg von dem zerstörten Marktzentrum, durch Straßen, die sich leerten. Gut, die Straßen waren so dreckig wie sie überhaupt werden konnten. Aber die Bertis waren noch frisch auf der Straße, noch nicht zu müde. Deswegen waren die Diebe, Einbrecher und Totschläger noch nicht unterwegs. Es war also auch noch überraschend sicher und so schritten die beiden Jungs gelassen aus, bis sie die Sonnenallee herunterkamen und den Tempel auf dem Hügel sehen konnten. In diesem Moment fiel ihnen die Möglichkeit wieder ein, dass man auch sie verhaften könnte. Viel schlimmer wog jedoch noch, dass sie einen Tempelwächter etwas fragen mussten.
Bertis waren schlimm genug mit ihren Raupenhelmen und den schwarzen Uniformen, die sie so schlicht, aber aufrecht, standhaft und auch unnahbar machten. Trotzdem waren sie für die Xpochler da. Wenn man ein Problem hatte, konnte man sich an sie wenden. Die Tempelwachen waren eine ganz andere Sache. Das Gerücht hielt sich, dass sie schlimmer waren als die Palastwachen, und die waren Elitesoldaten, die wirklich keinen Spaß verstanden. Aber die am Tempel waren so sehr davon überzeugt, dass sie die aufrechtesten Menschen unter der Sonne Hetrados waren, denn sie verteidigten den Glauben. Hinzu kam, dass sie diese furchtbar bunten Uniformen trugen mit breitem, blauen Barrett, rotweißen Puffärmeln und einem glänzenden Cuirass. Diese lächerliche Aufmachung hätte sie zum Gespött von ganz Xpoch, vielleicht des ganzen Reichs gemacht, wären da nicht die Dampfrepeater gewesen, die sie bestenfalls über der Schulter, schlechtestenfalls in den Händen trugen. Bertis gab es in allen Größen, Gewichtsklassen und Altersgruppen. Die Tempelwächter waren jung, groß und kräftig. Begegnete man ihnen auf der Straße, wusste man auch ohne Uniform, was sie waren. Und vor dem Haupteingang standen gleich zwei von ihnen.
Es gab aber auch noch einen zweiten, kleinen Eingang, der für Boten, Spenden und das Personal offen stand. Abends war hier mehr Verkehr als am Haupteingang. Dennoch stand nur eine Wache auf Posten. Sie brauchten sich nicht einmal anzusehen, um sich darüber einig zu werden, dass sie es lieber mit einer als mit zwei Wachen zu tun haben wollten.
"Hetrados zum Gruß." Bertis gegenüber fiel es ihnen gelegentlich schwer, höflich zu sein. Tempelwachen hingegen verlangten einen ganz anderen Respekt.
"Möge Hetrados eure Wege beleuchten." Die Worte klangen aus seinem Mund hart und wenig wie ein Segenswunsch.
"Entschuldigen Sie, Herr, wir hätten eine Frage."
Die beiden Feldstraßler waren so weit vorgetreten, wie sie es wagten.
"Kommt morgen wieder, meine Söhne, die Sonnenherren werden euch behilflich sein."
Einen Moment lang stockten sie. Tisco hatte jedoch, dank Vilet, inzwischen genug Respekt vor den Priestern verloren, um selbst eine Tempelwache noch einmal zu fragen. "Auf der Wacht hat man uns gesagt, dass unsere Vermieterin hierher gebracht wurde."
Der große Mann blickte auf sie hinunter. Er sagte kein Wort, während er sie anstarrte. Vielleicht, wenn Tiscio und Gunnar etwas weniger Müde gewesen wären, hätten sie den Hinweis in diesem Blick verstanden. Aber so wechselten sie nur immer untereinander Blicke, um dann doch wieder dem Wächter standzuhalten. Als dieser bemerkte, dass sie stehen blieben, selbst nachdem der kleinere unruhig geworden war, erbarmte er sich ihrer. "Was wollt ihr?"
"Wir möchten nur wissen, ob sie wirklich hier ist, Herr"
"Wie heißt sie?"
"Vilet Freifrieder, Herr."
Er klopfte an der Tür ohne sich umzudrehen. Dazu legte er seinen Dampfrepeater lässig in die Armbeuge, so als wäre es nur ein dünner Stock. "Teru Enteru Yadigi." Gunnar wußte, dass es eine Zeile aus der Heiligen Schrift war, er kannte jedoch nicht die Bedeutung der Worte. Tiscio blickte nur fragend auf seinen jüngeren Freund. Eine Sichtklappe in der Tür schwang auf und ein weiterer Wächter blickte heraus. "Vilet Freifrieder? Wird verhört, oder?"
"Ja!" Die Klappe schnappte zu.
"Jetzt könnt ihr gehen." Es war keine Frage. Und die beiden wollten beim besten Willen ihr Glück nicht überstrapazieren.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 03