Der Rest des Tags war gefüllt mit erstaunlich anstrengender Langeweile. Nichts war, wie es sein sollte. Die Stadt schlich wie benommen durch den Tag. Trotzdem hatte die Metrowacht alle Hände voll zu tun. Denn die Menschen waren unkonzentriert, traurig, gereizt. Der Angriff auf ihre Stadt hatte alle verunsichert und verängstigt. Die einen schlichen und schreckten bei jedem Geräusch auf, andere stießen ihre stolze xpochler Brust heraus, um zu zeigen, dass niemand die Stadt und ihre Einwohner besiegen konnte. Und viele tranken zu viel, sobald sie irgend die Möglichkeit dazu fanden. Es war eine explosive Mischung, die immer wieder zu Streit und Mehr führte. Natürlich suchte das Volk nach einem Schuldigen. Die Metrowacht und Beamte des Königlichen Haushalts versuchten an den Brennpunkten präsent zu sein, aber die üblichen Anschuldigungen machten trotzdem schnell die Runde. Bald war zum wiederholten Male das Wort von der Osispunischen Weltverschwörung in aller Munde. Denn bestimmt hatten diese kleinen Heiden in ihrem Ghetto die Banken unterwandert und konnten durch das Chaos viel Geld verdienen und das Imperium in die Knie zwingen. Von einigen war zu hören, dass es endlich mal wieder Zeit wurde, diese gierigen Ketzer in ihre Schranken zu weisen, und jeder wusste, was damit gemeint war.
Es waren jedoch die Prediger des großen Tempels, die in den Straßen die Menschen um sich scharrten. Für die Priester Hetrados waren selbstverständlich die Hexen und Kultisten der anderen Religionen verantwortlich. Mit ihren heidnischen Praktiken und ihren häretischen Ansichten, war es nicht nur natürlich, dass sie, da sie sich schon gegen die Staatsreligion wandten, auch gegen den Staat wenden würden? Diese Argumentation hatte eine gewisse Logik, verfing jedoch auch schnell wieder bei den Osispun, so dass die ersten Kompanien aus Burgdorf in die Innenstadt verlegt wurden, wo sie die Eingänge zum Ghetto und dem Tempelbezirk bewachen sollten. Um 16 Uhr blockierten sie die Eingänge mit Rüstern. Um 17:30 war der letzte Besucher aus dem Tempelbezirk vertrieben. Gegen alle Zusagen der Stadt, dass die Sicherheit in der Schetach den Osispun selbst oblag, wurden sogar auf ihren Plätzen kleine Truppenverbände stationiert. Nur wenigen war klar, was das Eingreifen des Militärs wirklich bedeutete, außer, dass es wirksam an den Brennpunkten für Ordnung sorgte.
Für die beiden Feldstraßler, den Exilanten und den Fremdenlegionär, bedeuteten diese ganzen Wirrnisse, dass sie sehr auf der Hut sein mussten, aber gleichzeitig kaum etwas tun konnten. So fanden sie sich sehr viel früher in der Feldstraße ein, als sie eigentlich geplant hatten. Sie setzten sich in einen der Eingänge und versuchten eine Pose der lässigen Gleichgültigkeit einzunehmen, was Tiscio zwar besser gelang, jedoch auch bei ihm nicht überzeugend wirkte. Und schnell überkam sie Langeweile. Für Tiscio, der immer noch eher gewohnt war, mehr zu tun zu haben als er glaubte bewältigen zu können, kein unangenehmer Zustand. Gunnar hingegen vermisste immer mehr seine Werkstatt, und ließ seinen Unmut auch laut und deutlich hören, bis die beiden sich fast in die Haare bekamen.
Dennoch warteten sie weiter, denn nachdem sie die jüngeren Kinder nicht auf der Straße vorgefunden hatten, musste Walde entweder bei Alna oder bei sich selbst zuhause sein. Und neben den vielen ungeschriebenen Gesetzen, die für Jungen ihres Alters galten, gab es auch jenes, dass es für sie unmöglich machte, einfach ein kleines Mädchen zu besuchen, ohne dass ihre älteren Brüder dabei waren. Selbst Gunnar wäre nicht auf eine solch seltsame Idee gekommen.
Malandro war verständlicherweise wieder der erste, den sie antrafen, da er für den Weg nach Hause nicht auf die Schiene angewiesen war. Bis dahin waren insgesamt vier Frauen und zwei von den Suffköppen zu ihnen gekommen, um entweder zu sehen, wer sie denn waren oder sie sogar zu vertreiben. Es hatte viel Gemeckere gegeben, bis sie jeweils bemerkt hatten, dass sie Tiscio vor sich hatten, kein besonders netter und höflicher Junge, aber immerhin ein Feldstraßler. Und das andere Kind schien mit seinen höchstens elf Jahren ebenfalls keine Gefahr darzustellen. Gunnar reagierte etwas ungehalten, wenn man ihn für so viele Jahre jünger hielt - und zwei Jahre waren für einen Dreizehnjährigen viel. Daher war es ein Glück, dass es niemand in seinem Beisein erwähnte. Vermutlich hätte er denjenigen sonst mit einer brutalen Wucht an Schimpfwörtern belegt, deren Bedeutung nahezu allen Feldstraßlern zwar unbekannt gewesen wäre, sie aber vielleicht härter getroffen hätte, als ein paar Schläge seiner Fäuste, was immer das bedeuten mochte.
An anderen Tagen hätten sie nur noch vielleicht eine viertel Stunde auf die beiden letzten Bandenmitglieder aus der Fabrik warten müssen, diesmal vergingen beinahe zwei weitere Stunden. Entsprechend entnervt und erschöpft waren Walmo und Walter, als sie schließlich in die Straße einbogen.
"Hoffentlich können wir heute Abend ein bisschen ausruhen. Bitte Tiscio, keine Besuche bei Unterschnitt oder so ein Kram."
"Hey, du hättest wenigstens 'Hallo' sagen können, Walter"
"Ne, zu grütziger Tag. Und wenn ich dich sehe, wie du hier rumlenzt, dann möchte ich nur speien." Er grinste und sie umarmten sich. Tiscio merkte, wie verschwitzt sein Freund war.
"Wollen nur mit deiner Schwester sprechen."
"Was hat sie angestellt?"
"Sie war bei Vilet."
"Kann nich sein."
"Kann doch sein. Hab ihr Tuch in Vilets Truhe gefunden." Und bevor Walter noch einmal abstreiten konnte, zog er das Tuch aus seiner Hosentasche und hielt es hoch.
"Große Grabenmeische. Kann einfach nicht sein." Er nahm das Tuch und betrachtete es genauer. "Sieht genauso aus wie das, was wir ihr geschenkt haben."
"Willst du es jetzt Walde zurückgeben?" Walmo erntete einen genervten Blick von Walter.
"Will nur wissen, warum Vilet das hat. Und vielleicht weiß Walde sogar mehr."
"Was soll sie denn noch wissen? Wer sie entführt hat?"
"Weiß ich doch auch nicht. Aber das Tuch is mit ner Karte und irgend so nem Zettel zusammen gewesen. Vielleicht weiß sie was davon."
"Auch egal. Ich will jetzt erst mal wissen, warum sie das Vilet gegeben hat."
Wenig später fanden sich die fünf Jungs in der Wohnung der Ws wieder. Sie hatten noch einen kleinen Moment vor der Tür warten müssen, bevor die letzte Kundin von Walters und Walmos Mutter gegangen war. Walter und Skimir hatten einmal einer Kundin, der es ziemlich schlecht nach dem Besuch gegangen war, auf die Straße geholfen, waren dann aber dafür von Walters Mutter fast verprügelt worden, weil ihre Kundinnen für gewöhnlich unerkannt bleiben wollten.
Seitdem versteckten sie sich, wenn möglich, einen Treppenabsatz weiter oben, wenn sie wussten, dass da noch jemand in der Wohnung war.
Als sie schließlich den kleinen Raum betraten, in dem Walde noch mit Puppen hätte spielen sollen, saß sie bereits schon auf ihrer Matte und sah sie an, gerade so, als hätte sie auf sie gewartet.
"Und? Heute wieder mit Alna gespielt?"
"Ja, aber sie ist schon gegangen. Schon lange."
"Tiscio hat eine Frage." Walter sah zu seinem Freund hinüber, "Und ich auch."
"Ja, Walter."
Waldes Antwort ließ Walter stutzen. Er zögerte einen Augenblick, weswegen Tiscio seine Fragen stellte:
"Du warst bei Vilet, oder?"
"Ja, jede Woche. Ich werde doch in ein paar Jahren die Frühlingskönigin."
"Du kannst doch nicht einfach allein in den Tempelberzirk gehen!" Walter fasste seine kleine Schwester am Arm.
"Aber mir passiert doch nichts. Ich sehe doch, wenn was passiert. Nur in der Schule ärgern sie mich immer."
"Was solln das heißen? Natürlich kann dir was passieren."
"Nein, ich werde doch Frühlingskönigin."
"Immer diese Frühlingskönigin. Du bist ein kleines Mädchen."
"Vilet ist doch auch Frühlingskönigin, und sie ist verschwunden."
"Ja, ich weiß. Sie hat mir das schon gesagt, damit ich keine Angst zu haben brauche."
"Sie wusste das?"
"Natürlich."
Die Jungs sahen sich ungläubig an. "Dann ist sie gar nicht entführt worden?"
"Doch. Ich weiß aber nicht von wem."
"Das ist mir langsam zu hoch. Hat Walde jetzt das zweite Gesicht oder was is hier los." Gunnar, als jüngster, traute sich die Frage auszusprechen, die die anderen die ganze Zeit verdrängten.
"Ich habe doch nur ein Gesicht."
"Er meint, ob du Sachen siehst, die andere nicht sehen."
"Nein, wieso?"
"Ach nur so."
"Du spinnst wohl. Dass is nich 'Ach nur so'. Was is jetzt mit Vilet." Tiscio war offensichtlich ziemlich erregt. "Wie konnte sie das wissen mit ihrer Entführung?"
"Vilet ist die Frühlingskönigin. Nicht mehr lange, aber jetzt ist sie sie noch."
"Und was soll das bedeuten?"
"Das ist doch klar." Vilet sah die Jungs mit einem Blick an, wie ihn nur kleine Kinder haben, die der Meinung sind, dass Erwachsene etwas vollkommen Offensichtliches nicht verstanden haben. "Im Winter gibt es natürlich keine Frühlingskönigin."
"Natürlich." Auch Walter machte inzwischen einen etwas wütenderen Eindruck.
"Und was passiert dann?"
"Dann kommt der Winterhirte." Sie überlegte einen kurzen Augenblick: "Oder vielleicht auch nicht. Vilet glaubt, dass er besser nicht kommt."
"Der Winterhirte. Warum hat sie mir nie was davon erzählt?"
"Das denkst du dir doch alles nur aus, Walde."
"Nein, das ist wahr. Das hat mir Vilet erzählt."
"Und was ist die Frühlingskönigin nun?"
Walde sah Malandro verständnislos an.
"Ich meine, was macht sie? Warum ist sie was Besonderes? Wie wird sie Frühlingskönigin?"
"Ein Engel kommt zu ihr und fragt sie. Und wenn sie ja sagt, dann ist sie es."
"Das wird mir langsam zu verrückt. Dass dürfen wir keinen hören lassen, sonst landet sie in Schlechtorf."
"Sagst du, meine Schwester ist Verrückt."
Malandro griff schnell ein: "Ruhig, ihr."
Inzwischen fragte Gunnar bereits weiter:
"Und wenn sie stirbt kommt der Engel zurück und sucht jemand neues aus?"
"Nein." Walde lachte wie über einen dummen Witz. "Sie ist doch nur bis zum Winter Frühlingskönigin. Hab ich doch schon gesagt."
"Es gibt jedes Jahr eine neue?"
"Natürlich."
"Und was soll die Frühlingskönigin jetzt tatsächlich tun?"
"Na den Leuten helfen, was denn sonst."
"Warum sollte sie dann verschwinden?"
Darauf wusste Walde jedoch auch keine Antwort. Die Jungs sahen sich an, bis Tiscio die Karte und den Zettel hervornahm um sie Walde zu reichen.
"Das habe ich in Vilets Kiste gefunden." Er ignorierte Gunnars mürrischen Blick, weil er ihn nicht mit einbezogen hatte. "Kannst du damit was anfangen?"
Walde nahm beides entgegen und betrachtete es. Dann nickte sie. "Ich sag's euch aber nur, wenn ihr morgen mit in die Schule kommt, und mich beschützt."