Tiscio war erschöpft von der Befragung, so als wenn er den ganzen Tag geschuftet hätte. Aber er kannte das schon von einigen Gesprächen mit Vilet. Gunnar hingegen war inzwischen bester Stimmung. Er hatte zum ersten Mal das Haus von Unterschnitt betreten, selbst wenn der große Mann nicht anwesend gewesen war. Und er hatte miterlebt, wie Tiscio ganz klein geworden war. Gegenüber Vilet verschwand schon immer sehr schnell sein Starkermanngehabe. Aber gegenüber Herrn Kargerheim war er klein wie ein Erstklässler gewesen. Gunnar mochte Tiscio, ehrlich. Aber, obwohl er offensichtlich bei den Feldstraßlern aufgenommen worden war, behandelten die anderen ihn immer wie den dummen Jungen, den man die ganze Zeit herumkommandieren konnte. Außerdem hatte er Tiscio das frühe Aufstehen immer noch nicht ganz verziehen.
Tiscio setzte sich, als sie das Haus verlassen hatten, auf die Treppenstufen der Konditorgasse 23a. Nach kurzem Zögern setzte sich Gunnar neben ihn.
"Und was jetzt?" Tiscio schwieg.
"Willst du nach Hause gehen? Vielleicht hat sie irgendwas aufgeschrieben? Vielleicht war das nicht der erste Überfall neulich Nacht? Deiner Mutter hatte sie doch nichts gesagt, oder?"
"Nö, nach Hause bringt‘s nicht. Dann macht sich Mutter nur noch mehr Sorgen." Gunnar konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Er wusste genau, warum Tiscio nicht nach Hause gehen würde, während die Schule noch im Gange war.
"Ich weiß auch nicht, was wir jetzt machen. Muss wahrscheinlich mal wieder in der Ecke vorbeischauen und den Leuten sagen, dass Vilet wieder nicht kommt." Ein Funken Hoffnung glitzerte plötzlich in Tiscio auf. "Vielleicht ist sie ja da?" Er sprang auf und machte sich ohne auf Gunnar zu achten, auf den Weg.
Als sie im Tempelbezirk Vilets Ecke erreichten, war die Schlange etwas kürzer als Tiscio sie gewohnt war. Nachdem er aber die ersten Besucher gesprochen hatte, wusste er, dass bereits viele wieder gegangen waren, da sie Vilet nicht vorgefunden hatten. Einen kurzen Augenblick lang überlegte er, ob er nicht die Kiste holen sollte, um die Ecke wenigstens herzurichten. Er hatte das Gefühl, ihnen das Gefühl geben zu müssen, dass Vilet wieder kommen würde. Während er noch unschlüssig vor dem Nachbarschrein stand, sprach ihn Karwald, der Diakon dieses kleinen Tempels an. "Tiscio, auf ein Wort."
Tiscio nickte und, gefolgt von Gunnar, zogen sie sich in eine nur schwach beleuchtete Ecke des Gebäudes zurück.
"Ich hoffe, Vilet kommt bald wieder. Ehrlich, dass hoffe ich wirklich. Aber ihre Gläubigen verstellen meinen Gläubigen den Weg."
Der Jüngere schüttelte den Kopf. "Was soll ich tun? Ich mein, bestimmt kommt sie zurück." Er zögerte. "Vielleicht kann ich meiner Mutter Bescheid sagen. Dann kommt sie morgen und regelt das."
Karwald nickte anerkennend. Dann blickte er zu der Stelle hinüber, wo er Vilets Kiste aufbewahrte. "Soll ich die erst einmal weiter hier aufbewahren?"
"Meine Mutter kümmert sich bestimmt auch darum." Plötzlich merkte er, wie müde ihn die letzten Tage gemacht hatten. Sie wollten sich schon verabschieden, als Gunnar sich zu ihm hinüberbeugte, um ihm ins Ohr zu flüstern: "Wollen wir mal reinkucken? Vielleicht hat sie ja da was hinterlassen."
"Du willst ihre Truhe durchsuchen?"
"Du hast doch schon öfter etwas rausgeholt, oder?"
"Ja, aber da war Vilet dabei."
"Mhm, dass kann ich verstehen." Damit ging er zu Truhe. "Trotzdem." Er zog die Decke, die sie verbarg, herunter und tastete am Deckel herum. "Wie geht das Ding denn auf?"
"Hey, finger weg." Doch bevor Tiscio ihn wegziehen konnte, knackten die Schlösser auf und Gunnar hatte den Deckel hochgehoben. Tiscio stutzte. Er war immer davon ausgegangen, dass die Truhe wenigstens verschlossen, wenn nicht sogar mit irgendeinem geheimnisvollen (wenn nicht sogar magischem - die letzten Tage hatten ihn in dieser Hinsicht etwas verunsichert) Mechanismus gesichert war. Er hockte sich neben Gunnar. "Bring aber nichts durcheinander." "Wer ist der Unordentliche hier?" "Hej, ich bin nicht unordentlich." Gunnar ignorierte ihn einfach und nahm vorsichtig Decken, Kissen und all die Dinge heraus, die Vilet Tag für Tag in ihrer Ecke auspackte, bis die Kiste leer war. Auf dem Boden fanden sie ... nichts.
Gunnar begann den Boden abzutasten. Anschließend fuhr er mit den Fingern die Innenwände ab.
"Das ist wie in einer Unterschnitt-Geschichte, nich?"
"Du hast nen Knall." Trotzdem machte sich auch Tiscio daran, die Kiste zu durchsuchen. Da Gunnar das Innere bearbeitete, untersuchte er das Äußere. Insgeheim hofften wohl beide auf ein Geheimfach, dass ihnen alle Geheimnisse Vilets offenbaren würde. Endlich fand Gunnar einen zusammengefalteten Bogen Papier im Futter des Deckels.
Bevor Gunnar ihn auffalten konnte, riss Tiscio ihm den Zettel aus der Hand. Als er ihn auseinanderzog fiel ein kleinerer Zettel heraus. Diesmal griff Gunnar zu. "27.10. Sieht aus wie ein Datum. Was ist bei dir drauf?"
"Sieht aus wie eine Karte. Da steht Rowenwald. Und dort ... das sieht aus wie die Straße nach H'Ref. Und das Kreuz sieht aus, als wäre es ziemlich nah an Schlechtorf."
"Meinst du, dass sie sich da mit wem treffen wollte? Am 27.10.? Ist fast zu einfach, oder?"
"Wieso zu einfach?"
"Na, wenn es ein Unterschnitt-Heft wäre, dann würde das Datum für irgendeine Adresse stehen oder für ein Konto oder sonstwas. Und die Karte wäre ein Code für irgendeine Person. Was weiß ich? Das wäre halt nicht einfach eine Karte und ein Datum."
Tiscio konnte Gunnars Gedankengang nicht ganz folgen, oder vielmehr, er sah keinen Sinn darin, deswegen tastete er noch einmal in dem Futter des Deckels herum, wo er, ohne große Überraschung tatsächlich einen kleines Taschentuch fand. Was ihn jedoch überraschte, war, dass er das Tuch kannte.
"Verdammte Scheiße! Was macht das hier."
"Wow, gut dass deine Mutter nicht hier ist. Was ist damit?"
"Das haben Walmo und Walter ihrer Schwester geschenkt. Walmo war ewig stolz drauf, weil sie sich so gefreut hat. Was macht das hier?"
"Hat sie wohl Vilet gegeben."
"Wann? Von uns ist keiner mit ihr hierhergekommen."
"Fragen wir sie."
"Ja sollten wir vielleicht. Is aber wohl nicht so wichtig."
"Ich weiß nicht. Ich find es ein wenig unheimlich. Erinnerst du dich an gestern? Als Walde uns nachgerufen hat?"
"Ne, nich wirklich."
"Ich hab mir nicht wirklich was gedacht dabei, aber es war irgendwie gruselig."
"Walde kann schon eigen sein. Ich habe dir doch erzählt, wie wir Alna gesucht haben. Walde wusste angeblich Sachen, die sie einfach nicht wissen konnte. Spinnereien, aber gruselig. So isse halt."
"Glaub ich, sofort. Trotzdem. Ich hör das noch von Gestern. Wir haben alle 'bis morgen' gesagt, aber bei ihr klang das so groß sicher. Genau wie du sagst: Sie weiß das."
"Das ist doch Großgrütze." Und Tiscio wußte, dass es vielleicht nicht so eine Großgrütze war, wie er sich selbst vormachte.
"Trotzdem. Können sie ja mal fragen. Heute Abend. Wenn sowieso alle da sind."
"Ja, könn'we'ja. "
Tiscio sah sich um, und als er das Gefühl hatte, dass sie nicht beobachtet würden, steckte er das Tuch, anschließend den Plan und zuletzt den Zettel ein.