Die Straßen im alten Xpoch waren ein wenig ruhiger als die in der Neustadt, aber es war auch in der Zirklergasse nicht lange still. Spät in der Nacht rumpelten die Lappenfahrer mit ihren Handkarren über das Kopfsteinpflaster, wenig später kamen die Austräger. Hier waren es nicht so viele wie in einigen anderen der besseren Stadtteile, aber zwei Familien ließen sich immerhin eine Zeitung kommen. Ein Luxus, der an Dekadenz grenzte.
Anschließend kamen die Auslieferer. Auch hier fanden sich nicht viele Häuser, die es sich leisten konnten, sich die Lebensmittel liefern zu lassen. Aber wieder gab es jemanden mit genügend Geld. Also kam ein Junge mit einer Schütte voller Obst, Gemüse und anderen halbwegs frischen Nahrungsmitteln jeden Tag außer Sonntags. Milch andererseits wurde ziemlich viel in der Straße getrunken, so dass der rumpelnde und klappernde Milchwagen kurze Zeit später langsam an den Häusern vorbeizog, während der Milchjunge die Flaschen von der Ladefläche nahm und sie vor die Türen der bezahlenden Kunden stellte. Spätestens jetzt standen die letzten Hausfrauen auf, zogen sich an und begannen mit ihren Arbeiten. Die ersten Besen wurden über das Pflaster geschwungen, die ersten Mütter machten sich auf den Weg zum Markt. Es war eine gute Zeit, unterwegs zu sein, denn die Straßenlampen brannten noch und erhellten die natürliche Dunkelheit. Tagsüber jedoch, gelegentlich, wenn der Wind die Abgase der Fabriken in die Stadt wehte oder die Luft den Qualm der Schornsteine in die Straßen drückte, brannten die Laternen nicht und es war oft dunkler als nachts.
Sie hatten die Nacht in Gunnars Haus verbracht. Tiscio war zu ihnen hinübergelaufen und Gunnars Mutter hatte sofort Platz in den Räumen geschaffen, die Gunnars Vater mit allen möglichen Plänen, Bauteilen und halbfertigen Erfindungen vollgestellt hatte, sehr zum Missfallen ihres Ehemanns. Es war eine bessere Bettstatt als sie sie jemals in der Feldstraße gehabt hatten, aber nicht zu vergleichen mit ihren engen aber gemütlichen Betten in Vilets Wohnung. Tiscio war deshalb auch etwas grantig, als ihn Vilet weckte. Er wusste nicht genau, wie spät es war, aber es konnte unmöglich Zeit zum Aufstehen sein. "Mach dich schnell fertig, dann schaffst du es rechtzeitig zu deinen Freunden." Vilet sprach sanft und leise, aber ihre Worte erinnerten Tiscio sofort daran, dass er dringend etwas zu tun hatte. Er sprang zwar nicht auf, aber seine Bemühungen, sich aus seinen Decken zu schälen und wach zu werden, waren schon von mehr Elan befeuert als vor ihren Worten.
Natürlich war Gunnars Mutter bereits auf den Beinen. Als sie sah, dass Vilet und Tiscio sich aufmachten, das Haus zu verlassen, wollte sie schnell noch ein kleines Frühstück richten. Vilet winkte jedoch dankend ab und Tiscio nahm nur hastig eine Scheibe trockenen Brots auf die Hand. Beim hinausrennen rief er Gunnars Mutter noch zu, dass sie bitte ihrem Sohn sagen sollte, dass sie sich bei Walter treffen würden, dann war er schon auf dem Weg zur nächsten Schienenstation. Es schmerzte ihn, dass er sein weniges Geld für eine weitere Fahrt rausschmeißen musste, anders konnte er es jedoch unmöglich rechtzeitig schaffen, bevor die Bandenmitglieder zur Arbeit gingen.
Die Schiene zur Neustadt raus war, als er einstieg, noch nicht besonders voll, füllte sich aber schnell mit jeder Station. Tiscio versuchte seinen Platz an der Tür zu verteidigen, um schnell herausrennen zu können, aber es war harte Arbeit. Endlich sah er das vertraute Dach seiner alten Heimatstation. Beim Aussteigen machte er sich schließlich keine Freunde und die Flüche eines halben Abteils begleiteten ihn die Treppen hinunter.
In der Station zu laufen machte sich nicht gut, denn Wachleute und Fahrgäste standen im Weg und hielten einen womöglich für einen Taschendieb. Aber am Ende der Treppe, als er durch das Gitter durch war, nahm er die Beine in die Hand und rannte zur Feldstraße. Als er in die Straße einbog und niemanden, außer den üblichen Säufern, die den Weg in ihre Absteigen nicht mehr gefunden hatten, vorfand, glaubte er schon, dass er seine Freunde verpasst hätte. Doch sobald er wieder ein wenig zu Atem gekommen war und sich besonnen hatte, erinnerte er sich, dass er viel zu früh unterwegs war, um Malandro, Walter oder Walmo antreffen zu können. Und Skimir wäre sowieso noch zu hause. Tiscio rannte zu ihm hoch und hämmerte gegen die Tür. Ein hagerer Skimir öffnete sie schließlich.
"Tiscio? Was machst'n hier?" Tiscio war sich nicht sicher, ob Skimir noch ungewaschener als früher war, oder ob er selbst inzwischen einfach sauberer war. Er holte erst einmal tief Luft, seine Worte kamen dennoch nur stoßweise hervor.
"Sind gestern ... von Brennern überfallen ... worden. Gunnar und ... ich." Erneut atmete er tief ein. "Und danach waren Ritter bei Vilet und haben meine Familie bedroht."
"Scheiße," stieß Skimir hervor. Es gab Wörter, die selbst sie normalerweise nicht benutzten und er zuckte unwillkürlich zusammen. Wenn jemand ihn gehört hatte, konnte er mit einigen blauen Flecken mehr rechnen. Sie schwiegen einen Moment lang und blickten überall hin, nur nicht in das Gesicht ihres Gegenübers.
"Wir müssen das klären." Fast hätte Tiscio mit dem Fuß aufgestampft. Skimir nickte nur. "Und zwar jetzt." Als Skimir sich immer noch nicht bewegte, gab Tiscio ihm einen Stoß. "Zieh dich an. Ich geh' zu den Ws. Gleich unten." Wieder nickte Skimir. Diesmal drehte er sich jedoch um und verschwand in der Wohnung.
Nachdem sie sich auf der Straße versammelt hatten, gingen sie am Ende doch nicht gemeinsam in den Brennerbogen. Walmo hatte Ärger in der Fabrik, deswegen verabschiedete er sich auf der Straße von den anderen, aber Malandro und Walter warteten mit Tiscio zusammen, bis Skimir schließlich erschien. Er wirkte elend und hatte Schrammen an den Händen. Er nickte ihnen zu und sie machten sich auf den Weg zum Brennerbogen.