Am übernächsten Tag war er wieder da, der Verband schmutziggrau, so wie seine Stimmung.
"Soll ich wieder sitzen üben?" Sein Magen knurrte laut und etwas verlegen fügte er hinzu: "Sie haben nicht zufällig einen Knust übrig?"
Vilet goß ihm zuerst einen Panas ein, dann kramte sie in ihrem Korb, um Tiscio schließlich eine Karotte anzubieten, die er dankbar annahm. Anschließend nahm sie den Verband ab. Sie schien in keinster Weise überrascht zu sein, dass die Hand vollständig geheilt war.
"Ja, es wäre gut, wenn du dich schon mal richtig hinsetzen würdest. Hast du auch ein wenig geatmet?"
"Äh, ja, Nase rein, Mund raus . . naja, bis Walmo mich gehänselt hat, ich wär wie nen Stier vorm Schlachthof. Da hats mir gelangt, der hat doch keine Ahnung!" Tiscio rieb die Faust in einer Handfläche.
Vilet schüttelte den Kopf. "Und hat er seitdem aufgehört, dich zu hänseln?"
Tiscios Mine verdüsterte sich. Er drehte den Becher in den Händen hin und her. "War das einzige Mal, dass ich ausgerastet bin," gab er etwas kleinlaut zurück. Mehr fiel ihm nicht ein. Er schielte nach Vilets Gesichtsausdruck, dann probierte er ein Ablenkungsmanöver: "Soll ich mich jetzt hinsetzen? Und wie genau?"
"Ja, setz dich hin und atme wie ein Walross. Oder mach es besser nicht so offensichtlich." Vilet klang streng, vielleicht schon etwas verärgert. Ihr Schüler war fast schon erleichtert, als kurz darauf Chanu eintraf.
Während der Schrat mit seiner Unterweisung begann holte Vilet ihr Strickzeug heraus und ihre Nadeln begannen zu klappern. Chanu betrachtete aufmerksam Tiscios Haltung. "Besser als beim letzten Mal. Nun versuch nur auf deinen Atem zu achten. Achte nicht auf die Straße, nicht auf Vilet. Höre deinem Atem zu ..." und so verging die Zeit mit Atmen und Chanus Worten.
Zuerst etwas missmutig, aber dann, durch das halbe Lob motiviert konzentrierte sich Tiscio tatsächlich auf die Worte des Alten.
Und mit einem Mal war es tatsächlich so, als wenn das Atmen alles wäre. Für einen kurzen Augenblick vergaß er alles, Hunger, Schmerz, seine Sorgen.
Aber so schnell das Gefühl gekommen war, war es auch schon wieder fort. Er öffnete die Augen und die Worte quollen aus ihm heraus: "Wollten Sie mir das zeigen?"
"Was denn?"
"Na, das. So ein Moment ...", bei der Suche nach den richtigen Worten begann er mit seinen Händen zu fuchteln und unruhig hin und her zu rutschen, sehr zum Missfallen Chanus. "Son Moment, wo man ganz für sich ist ... und nichts einen ablenkt."
Noch einmal überlegte er kurz, dann fügte er aufgeregt und furchtbar schnell hinzu: "Kann ich das machen und dann einfach nicht da sein, wenn einer mich zur Weißglut bringen will?"
"Wenn du es richtig gut kannst, schon." Vilet lächeln galt diesmal auch Chanu, dessen Missfallen zerfloss.
Ein neuer Eifer erfasste Tiscio. "Das wär schon was, einfach nich hören, was die anderen so sagen ... gibt's denn was, damit´s mir besser gelingt?"
Chanus ernste Stimme klang bestimmt aber nicht unfreundliche: "Üben. Du musst viel üben."
Der junge Feldstraßler runzelte die Stirn. "Soll ich immer nur auf meinen Atem achten? Das reicht? ... Die Ruhe hab ich sowieso nie irgendwo. Vor allem, wenn mich einer ärgert."
Während Chanu die Stirn runzelte lachte Vilet. "Du hast überall dazu Zeit. Deine Atmung ist wichtig. Aber es wäre zu einfach, wenn das ausreichen würde. Diese Übungen sind nur ein Hilfsmittel. Es gibt so viel, was man machen kann, zum Beispiel könntest du für jeden Wutausbruch einen Groschen spenden." Bei diesen Worten zuckte Tiscio, aber Vilet lenkte schnell ein: "aber das wäre zu sehr eine Strafe. Wir versuchen erst einmal sanfteres, nicht wahr?" Etwas beruhigter nickte er.
"Und jetzt, denke ich, wäre es an der Zeit mir zu erzählen, warum du eigentlich immer wütend wirst?" Chanu nahm abwesend einen Schluck aus seinem Becher, es war aber zu sehen, dass auch er aufmerksam zuhörte.
"Äh ... das passiert halt. Immer, wenn einer was sagt um mich zu ärgern." Er verstummte, weil selbst er merkte, dass das keine Erklärung war. "Ich wird´ wütend, wenn einer was über mich sagt, das nicht stimmt - oder was sagt, das zwar stimmt, ich aber nicht hören will. Sowas wie 'du Dummkopf‘ stimmt irgendwie, trotzdem will ich‘s nicht hören. Ich find‘s auch nicht gut, wenn einer über uns alle herzieht ohne uns zu kennen oder einfach nur, um zu beleidigen. Malandro kann dann was Kluges sagen und der andere hört auf, mir fällt nichts anderes ein als ihm die Fresse zu polieren. dann ist er auch still."
Dann druckste er herum, so als hätte die lange Erklärung erschöpft, fügte schließlich aber noch hinzu: "Manchmal bin ich auch einfach auf die ganze Welt sauer, weil manche Sachen einfach ungerecht sind."
Vilet schwieg. Sie betrachtete ihn einfach weiter, als würde sie noch mehr von ihm erwarten.
„Was solls sonst sein? Ich arbeite genauso viel wie Walmo oder Skimir und passe auf Dori und Frenz auf, aber ich hab nen Stiefvater, der mich trotzdem verprügelt, wenn er schlecht drauf ist. Dabei mach ich nichts falsch! Ich wünsch mir, ich könnte mich vor ihn stellen und mit ihm reden und ihm sagen, dass er aufhören soll, aber dann fällt mir wieder nichts ein und ich seh rot. Ausserdem würd ers eh nicht verstehen.“ Vilet konnte sehen, dass Tiscio sich langsam in Rage redete. Seine Hände ballten sich und er begann zu zittern, während er sie herausfordernd anstarrte.
"Dann brauchst du es auch nicht versuchen. Aber hast du schon einmal versucht, von zuhause wegzugehen?"
"Hab schon drüber nachgedacht, aber für alleine irgendwo wohnen bin ich zu jung und Herrn Kargerheim zu fragen trau ich mich nicht, obwohl die andren es ne gute Idee finden. Aber ich will ja schon, dass er mir ne Empfehlung für die Berties ausstellt, und das macht er bestimmt nicht, wenn er mitkriegt, wie ich immer alle kloppe." Leiser fügte er hinzu: "Meine Mutter hat sofort eingeschnappt und gesagt, ich hätte noch nie Familiensinn gehabt. Hab ich dann wohl nich. Is ja auch gar nicht meine Familie ..."
"Wenn es dir nichts ausmacht, kannst du erst einmal bei mir leben. Du müsstest mir allerdings auch Tags über helfen."
Dem Jungen blieb der Mund offen stehen. Er sah Vilet ungläubig an. Erst nach dem zweiten trockenen Schlucken bekam er überhaupt einen Ton heraus:
"Ich? Bei ihnen?" Sie konnte den Funken Hoffnung sehen, bevor Tiscio seinen Kopf abwandte und heftig den Kopf schüttelte. "Das geht nicht, ich gehöre doch in die Feldstraße ... und ich muss doch arbeiten gehen ... hab nämlich nen ziemlichen Hunger, müssen sie wissen ... und wer soll dann auf Dori aufpassen?" Er klingt immer verzweifelter.
"Du solltest deine Geschwister mitbringen. Ich kann auch gerne mit deiner Mutter sprechen."
Tiscios Mund war wie verklebt, seine Kehle trocken. Kein Wort wollte herauskommen. Er starrte Vilet nur an. Erst als er bemerkt, dass sie auf seine Antwort wartet, konnte er seinen Unglauben bezwingen: „Sie wird nicht mit ihnen sprechen, und wenn, dann erzählt sie es sofort unserem Vater und dann sind wir alle fällig. Wir, wir sind doch ... da ist doch Frenz und Erif und Dori und Sie können doch nicht uns alle . . .“ Eine solche Entscheidung war zu viel für Tiscio. Man sah deutlich, wie sehr es ihn ärgerte, sich nicht im Griff zu haben. Erneut ballt er die Faust, diesmal so sehr, dass sie ganz weiß wurden. Er ließ die Schultern und seinen Kopf hängen, so dass er tief zusammengesunken vor Vilet hockte.
"Ich kann mit deinem Vater umgehen und ich kann auch mit deiner Mutter umgehen. Aber dir muss auch klar sein, dass du dich dann um deine Geschwister kümmern, regelmäßig zur Schule gehen, dich regelmäßig Waschen und mir bei der täglichen Arbeit helfen musst. Das würde auch bedeuten, dass du deine Arbeit aufgeben müsstest, ich würde aber für dich sorgen. Natürlich kannst du dich weiter mit deinen Freunden treffen, aber ich habe so einige Ansprüche an dich und würde dir auch nicht alles durchgehen lassen."
Tiscio versuchte erneut, Vilets Worte zu verstehen. „Wie ... wie wollen sie das denn machen? Wenn ich kein Geld verdiene, Vater gibt ihnen bestimmt keins. Nein, der kommt und holt uns zurück, der braucht doch auch mein Geld um alles zu bezahlen. Das geht einfach nicht!“ Seine Worte wurden immer lauter und verzweifelter.
"Ich habe ein wenig Geld. Ich erhalte auch ein paar Spenden und um Nahrung brauchen wir uns keine Sorgen machen. Mach dir darum keine Sorgen. Und auch nicht um deine Eltern. Und viel beengter als bei euch wird es bei mir wohl auch nicht sein."
Ganz langsam schien Tiscio zu begreifen, dass Vilets Worte tatsächlich wahr werden könnten. „Sie wollen Ihr Geld für uns ausgeben? Und den Zorn meines Vaters auf sich ziehen? Und den doofen Frenz ertragen?“ Er grübelt und findet keine Antwort. „Warum wollen sie das Alles für mich tun?“
"Ich habe keine Kinder, ich bin ziemlich allein. Und bald werde ich hier auch nicht mehr sitzen, dann ist meine Zeit hier vorbei und eine andere wird meinen Platz einnehmen. Mein bisschen Handwerk, das ich nebenher mache, ist nicht wirklich erfüllend. Das ist meine Seite. Deine Seite ist, dass es dir nicht gut geht und ich dir helfen kann. Es liegt aber an dir, ob du dir auch helfen lassen möchtest."