Die Brennerbande, Teil 41, Einschub 3


Auf dem Heimweg grübelte er die ganze Zeit, was es wohl mit diesem Stein auf sich haben würde, kam aber zu keinem Ergebnis und zuckte schließlich, als er in die Feldstraße einbog nur noch mit den Schultern. Die anderen spielten bereits eine Weile Marqin und er stürzte sich auf den Ball. Seine Gedanken kehrten aber immer wieder zu dem Gespräch mit der älteren Frau zurück und jedes Mal musste er ein wenig lächeln, so als wenn Vilets Vertrauen in die Welt ein wenig auf ihn abgefärbt hätte.
Am nächsten Abend fuhr er zum immer größer werdenden Erstaunen seiner Freunde, mit einer anderen Bahn in Richtung des Gresgorgrabens, der die offiziellen Stadtteile im Westen und Norden vom Rest des Reiches trennte. Er suchte sich eine Stelle, die einerseits nicht so gut einsehbar und andererseits noch nicht von einem Bettler für seine Nachtruhe besetzt worden war. Er hoffte nur, dass niemand ihn beobachten würde. Erst als er sich tatsächlich hinkniete, nachdem er einen Stein in der geforderten Größe gefunden hatte, wurde ihm bewusst, dass er ein leichtes Ziel für Straßenräuber war. In der aufkeimenden Unruhe konnte er sich gerade noch davon abhalten, den Stein sofort aufzuheben. So gut es eben ohne eine Uhr ging, versuchte er die Zeit abzuschätzen, die er dort hocken musste. Das leise dahinfließende Wasser hatte dabei eine seltsame, beruhigende Wirkung auf ihn, obwohl der Gestank fast unerträglich war. Nachdem die Nase jedoch erst einmal aufgegeben hatte, vergaß er immer mehr die Zeit und schreckte schließlich hoch, als irgendein Schmutz im Wasser ein ploppendes Geräusch verursachte. Hastig ergriff er den moosigen Stein und machte sich eilig auf den Weg zurück in die Stadt. Auf den Schienen hielt er ihn festumklammert in seiner ausgeleiherten Hosentasche verborgen.
Erst als er an Vilets Erker angekommen war, holte er ihn wieder heraus und drängelte so lange, bis ihn eine alte Frau vorließ:
"So einen?"
"Genau so einen meinte ich. Würdest du ihn bitte dort drüben in den Mülleimer werfen?" Ohne zu zögern ging Tiscio zu dem öffentlichen Mülleimer. Er war fast erleichtert, dass der Stein keine tiefere Bedeutung zu haben schien. Anschließend wischte er sich die Hände verstohlen an seiner Hose ab. Er war froh, den stinkenden, glitschigen Stein loszuwerden.
Dann grinste er über das ganze Gesicht: "Das war wieder eine Prüfung, ne?"
"Ja. Das stimmt. Und jetzt möchte ich, dass du dir überlegst, was ich da eigentlich mit dir getan habe und warum du nicht wütend geworden bist."
"Wütend? Jetzt?" Er stutzt. "das wäre ja so, als ob ich meinen Schmiedemeister nicht leiden könnte, nur weil er mein Wasser ins Feuer schüttet." Er grinst. "Ne, ich hab die Aufgabe, die Sie mir gegeben haben erfüllt und ich hab noch rausgefunden, dass es ne Probe war. Sie sagen ja nicht 'Du Idiot, du bist zu dumm nen Stein zu tragen . . .‘"
"Tiscio, sieh es mal von einer anderen Seite: Ich habe dir eine sinnlose Aufgabe gestellt, dich viel von deiner Wertvollen Zeit verschwenden lassen. Du bist dabei dreckig geworden, musstest im Dreck knien für nichts und wieder nichts. Du bist ein Idiot, wenn du das nicht wenigstens ein wenig hinterfragst. Der Test war vollkommen willkürlich. Er hatte keinen Sinn. Aber da er dir ja nichts ausgemacht hat: Mach es bitte gleich noch mal. Auf Wiedersehen bis morgen."
Tiscios Hände ballten sich in seinen Jackentaschen. Grimmig stieß er seine nächsten Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Ich bin kein Idiot!“ Hastig drehte er sich um und verschwand zwischen den Gläubigen der verschiedenen Religionen.
Die Beleidigung bohrte die ganze Nacht in ihm. Selbst Vilet war der Meinung, ihm Schimpfnahmen geben zu müssen. Nicht einmal dieser Priesterin, die so vornehm, nein heilig tat, konnte man vertrauen. Nach der Arbeit, die er nur widerwillig überstand, fuhr er deshalb sofort nach Hause, verkroch sich im Hauseingang, um seinen Freunden aus dem Weg zu gehen und schlich sich schließlich in sein Bett, um bloß seinem Vater zu entgehen.
Der nächste Tag verlief genauso wie der vorherige, nur dass ihn auf dem Rückweg irgendetwas in der Bahn hielt. Wie ein führerloses Dampfmobil trieb es ihn zum Tempelbezirk und zu Vilets Ecke. Er zögerte seine Ankunft so gut es ging hinaus, wartete an jeder Ecke, besah sich die Schreine und Tempel, versuchte den ansässigen Banden aus dem Weg zu gehen. So kam es, dass er erst bei Vilet eintraf, als sie bereits ihre Becher in einen großen Korb packte.
"Konnte gestern nicht," sprach er sie trotzig an. "Musste auf meine Schwester aufpassen. Habs heut grad noch geschafft."
Vilet sah ihn ernst an. Ernst aber ohne Wut in der Stimme ignorierte sie seine Ausrede: "Ich denke, du musst dich entscheiden, was du sein willst. Du bist zu mir gekommen, damit ich dir helfe, also, entscheide dich: Bist du ein Idiot, weil du unnütze Sachen tust, die ich dir auftrage, oder bist du ein Trottel, weil du hierher kommst, ohne, dass zu tun, was ich dir gesagt habe, oder bist du ein dummer Schläger, weil du alles immer weiter so machst, wie du es schon immer gemacht hast? Was glaubst du, was du bist? Oder fällt dir noch eine Möglichkeit ein?" Ihre Augen blitzten Herausfordernd und Tiscio wusste auf einmal, dass sie stärker war, als es den Anschein hatte. Das Blut wich ihm aus dem Gesicht, während er sich davon abhielt, sie anzugreifen. Dann ließ ihn die Anspannung einen Schritt nach hinten machen: "Sie sind wie alle Erwachsenen! Warum sagen sie so etwas?"
Vilets Augen füllten sich mit Traurigkeit. "Ja, ich bin wie alle Erwachsenen. Und du bist wie alle jungen Männer. Das musst du erst verstehen lernen. Ich will dir wirklich helfen, aber du hast mir nicht geantwortet: Gibt es noch eine Möglichkeit, was du sein könntest?"
Es vergingen mehrere Minuten, in denen die Gefühle in Tiscios Kopf einen Krieg ausfochten. Zuerst brandete die Wut gegen alle Tore, so dass Tiscio Vilets Worte kaum aufnehmen konnte. Dann führte der Stolz seine Streitrosse ins Feld gefolgt von den Armbrustschützen der Unsicherheit, die ihn schließlich dazu veranlassten, die ältere Frau aus den Augenwinkeln anzusehen. Er suchte nach einer Reaktion in ihrem Gesicht. Vilet jedoch sah ihn nur weiter mit dieser Trauer an, die ihm ins Herz schnitt. Erst da konnte er versuchen, ihre Frage zu verstehen. Er wusste nicht weiter, er kannte die Antwort nicht. Woher sollte er wissen, was er sein konnte?
"Ich wollte es richtig machen. Diesmal von Anfang an. Wirklich!"

Die Kinder aus der Feldstrasse, 02