Tiscio wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte. "Glauben sie denn nicht an Hetrados?" Er überlegte kurz. Natürlich! Sie saß im Tempelbezirk. Also gehörte sie irgendeiner Sekte an. Irgendeinem anderen Glauben.
"Aber der König lässt sie doch nicht verfolge?" Wieder zögerte er. "Mögen sie die Pastoren nicht, weil sie Sachen können, die die nicht können?"
Vilet lachte hell auf. "Ja, der König lässt uns hier im Tempelbezirk in Ruhe. Das Reich ist zu groß geworden, als dass er immer noch nur die Hetradoniden berücksichtigen könnte. Aber ob die Priester mich nicht mögen, kann ich nicht sagen. Nur dass sie, wenn man sie ließe, keine Mühe scheuen würden, alle Ketzer lieber früher als später auf einem Scheiterhaufen verbrennen würden. Deshalb: ja, so richtig beliebt bin ich wohl bei den Pastoren nicht." Sie lächelte ihn an und suchte nach einer Reaktion. Tiscio blickte jedoch nur mit großen Augen zurück. "Ja, ich bin in den Augen deiner Religion eine Ketzerin."
"Aber sie sind so nett?"
Vilet nahm sehr vorsichtig einen Schluck aus ihrem eigenen Becher, um über ihr grinsen hinwegzutäuschen.
"Ketzer sind ja nicht das gleiche wie Teufelsanbeter. Und wir sind auch nicht alle gleich. Nur, weil ich nicht an Hetrados glaube, heißt das nicht, dass ich den Menschen etwas Böses antun will. Im Gegenteil: mein Glaube ist vermutlich viel friedfertiger als deiner."
"Und an welchen Gott glauben sie?"
"Mein Glaube kommt ohne einen Gott aus. Ich glaube nur, dass es eine unsichtbare Macht oder Kraft gibt, die die ganze Welt erfüllt. Manchmal hilft es, zu ihr zu beten, aber diese Kraft ist keine Person wie Hetrados."
"Hetrados ist doch keine Person!" Obwohl er sich nicht als religiös betrachtet hätte, empörten Vilets Worte den Hetradoniden in ihm.
"Vielleicht nicht in dem Sinne, wie wir es normalerweise sehen, aber wie würdest du jemanden bezeichnen, der Vorlieben und Abneigungen besitzt, der liebt und hasst, der hört und spricht, sieht und schmeckt. Es gibt sogar Legenden, in denen Hetrados etwas isst und in denen von seinen Kindern gesprochen wird. Als ich noch ein kleines Kind war, stellte ich ihn mir immer als großen, weisen Mann vor, tatsächlich so wie einen strengen Vater. Ich finde, das klingt alles sehr nach einer Person."
Tiscio schwieg. Dann leuchteten seine Augen auf und er blickte die ältere Frau misstrauisch an.
"Ist das so‘was wie eine Prüfung? Ob ich trotzdem bereit bin, Lehren anzunehmen? Malandro hat mal so eine Geschichte von einem alten Meister erzählt, der seinen Schüler ständig seltsame Sachen erzählte, um ihn zu prüfen."
Vilets lächeln wirkte noch etwas amüsierter als zuvor: "Wenn du es als Prüfung sehen willst, dann ist es vielleicht eine. Aber eigentlich ist es nur eine Warnung, damit du weißt, auf was du dich einlässt. Schließlich könnte mein Glaube auf dich abfärben, wenn du zu viel Zeit mit mir verbringst oder auf meine Ratschläge hörst. Und an seinem Glauben zu zweifeln hat für gewöhnlich ernste Konsequenzen."
"Vor den Pastoren fürchte ich mich nicht. In Xpoch passiert ja Ungläubigen nichts."
"Das war nicht ganz das, was ich meinte. Du solltest nur genau wissen, auf was du dich einlässt. Das schadet nie im Leben."
Tiscios Worte kamen etwas trotziger heraus, als er eigentlich vorgehabt hatte: "Hab schon nachgedacht, eh' ich zu ihnen gekommen bin. Hat aber alles keine Zweck so, noch mehr Schläge kann es nicht geben. Außerdem haben wir ´nen Plan," er zögerte, als hätte er Angst, sich zu verplappern, "und die anderen lassen mich nur mitmachen, wenn ich mich beherrschen kann."
Vilets Lächeln verschwindet und sie sieht tatsächlich ein wenig traurig aus: "Ich will nicht anzweifeln, dass du nachgedacht hast." Sie blickte ihm noch einmal forschend in die Augen: "Nun gut. Dann wollen wir mal sehen, was wir tun können. Bevor ich dir jedoch helfen kann, musst du mir einen Stein bringen. Einen Stein, von Moos überwachsen." Sie unterbrach sich kurz, um zu sehen, ob Tiscio ihren Worten wirklich folgte: "Du findest ihn am Ufer des Gresgorgrabens. Es gibt viele Steine dort, du nimmst einen, der nicht größer als dein Daumen ist. Bevor du ihn aber aufhebst, musst du dich vor ihn knien und ihn dir genau ansehen. Denk über ihn nach, berühre ihn aber nicht. versuche seine Form, seine Farbe genau zu erkennen. Erst nachdem du dort mindestens eine halbe Stunde gekniet hast, darfst du ihn aufheben und musst ihn mir innerhalb einer weiteren halben Stunde bringen."
Tiscio war überrascht. Aber er war es gewohnt, Befehle auszuführen und dachte sich, dass diese seltsame Steingeschichte wohl so eine Art Aufnahmeritual war, wie sie es auch mal in ihrer Bande angedacht hatten. Nur hatte es sich bei ihnen als vollkommen unnötig herausgestellt: Nur Feldstraßler wollten bei ihnen mitmachen und wenn man in der Feldstraße wohnte, war man eigentlich auch automatisch in der Bande.
Er trank seinen Panas aus, reichte Vilet seinen Becher und stand auf. "Morgen sind sie wieder hier, oder?"
Vilet lächelte nur, als wollte sie sagen: "Ich bin immer hier."