Die Brennerbande, Teil 39, Einschub 1


Wie seine Freunde konnte Tiscio das Abenteuer im Ingen nicht so einfach abschütteln. Anders als seine Freunde, die ihr Grauen wegquatschten, zog sich Tiscio zurück. Es gab Dinge, über die er sich freuen konnte: Alna war heile wieder zuhause. In der Schule waren sie sowas wie Helden, seitdem bekannt geworden war, dass sie einen Kindermörder gefasst hatten. Und Lilly, das Mädchen, das der einzige Grund war, dass die Schule nicht vollkommen vertane Zeit war, hatte ihn schon mehrfach angelächelt.
Aber das war nichts gegen die anderen Sachen, die ihm ansonsten durch den Kopf gingen. Nicht zuletzt verdunkelten die Erinnerungen an den Keller die wandernden Gedanken und Träume. Was ihn jedoch in seinen Überlegungen am meisten beschäftigte, war seine eigene Rolle in dem Geschehen, seine Wut, seine Unkontrolliertheit, die ihnen unnötige Prügel eingebracht hatte und sie womöglich das Leben hätte kosten können.
Und es wurde nicht besser. Gestern hatte er den Schlägen seines Stiefvaters mit den Fäusten geantwortet und prompt die Quittung kassiert. Er war gewiss kein großer Denker, Scheiße, die anderen hielten ihn sogar eher für dumm. Aber selbst ihm war klar, dass er diese Schläge nicht nur kassiert hatte, weil der Keller ihn voll durch den Wind gespühlt hatte.
"Ich komm heut nicht zum Marqin." Tiscio brüllte den Satz über das Rattern der Schienenbahn seinen Freunden zu.
"Wasn los?" Skimir und Walmo sahen ungläubig zu ihm hinüber.
"Hab was vor." Mürrisch blickte er zu Boden, beziehungsweise. auf die dreckigen Sachen der Arbeiter, die sich an ihn drängten.
Als alle an den Stationen in der Neustadt herausströmten, ging er mit den wenigen, die sich hatten hinausschieben lassen, wieder in die Schienen und fuhr bis in die Altstadt. Er spürte die Blicke derjenigen, die ihn als Fremden auf diesem Streckenabschnitt beobachteten. Ihm war sehr unwohl, ohne seine Freunde in dieser Gegend, aber zu dem, was er tun musste, konnte er sie nicht mitnehmen.

Wie immer um diese Zeit war der Tempelbezirk schmerzhaft überfüllt. Abends fanden sich die wirklich gläubigen ein, die in den häretischen Religionen, die hier angepriesen wurden, ihr Heil suchten. Die Anhänger Hetrados galten weithin als dogmatreu und vielleicht schon etwas fanatisch, aber die Mitglieder dieser kleinen Religionsgemeinschaften übertrafen sie leicht in ihrer Hingabe und auch Glaubensstriktheit.
Tiscio kämpfte sich durch die Menge, bis er den Schrein fand, der nur ein kleiner, mit Kissen ausgelegter Winkel zwischen zwei anderen Schreinen war. Er stellte sich an. Als Schlange konnte man die wartenden Menschen an Vilets Kissenburg nicht bezeichnen, denn sie standen ohne feste Ordnung im Halbkreis und warteten, dabei immer darauf bedacht, nicht auf das Gespräch zwischen der Frau und ihrem derzeitigen Gläubigen zu achten. Aber wie durch ein kleines Wunder folgte einer auf den anderen, ohne dass es Streit um die Reihenfolge gab. Endlich war es an Tiscio, in den Winkel zu gehen. Mit eiligen Schritten und seinem Blick auf einen Punkt oberhalb von Vilets Kopf gerichtet stellte er sich vor sie. Ihr freundliches Lächeln konnte er nur in den Augenwinkeln erahnen.
"Hallo Tiscio."
Einen Moment lang stutzte er. Nur selten erinnerten sich Leute außerhalb der Neustadt an seinen Namen. Nicht einmal die Vorarbeiter gaben sich diese Mühe.
"Ich wills endlich lernen!"
"Setz dich erst einmal hin." Mit einer Hand griff sie nach einer Kanne: "Panas?"
Tiscio nickte und setzte sich auf ein dickes Kissen.
"Das du etwas lernen willst, ist doch schon einmal ein guter Anfang. Aber du hast doch etwas bestimmtes im Sinn, nicht wahr?"
Tiscio nahm den warmen Becher zögernd aber doch dankbar entgegen. Die Abende wurden langsam kühler und er umfasste das Steingutgefäß mit beiden Händen, so, als wollte er sich daran festhalten.
"Was soll ich erzählen?" brummte er und war dankbar, dass seine Hände einen Ort hatten, an dem sie sich festhalten konnten, so dass sie nicht hilflos in der Gegend herumfuchtelten.
"Sie haben gesagt, sie könnten mich lehren." Er stockte kurz und versuchte sie anzusehen, "mich lehren, damit ich nich immer gleich zuschlage, wenn einer was sagt, das mir nicht passt. Sie haben gesagt, sie können das." Erst jetzt fanden seine Augen ihr Gesicht und er starrte sie mit einer Mischung aus Trotz und Hoffnung an.
Das Verständnis in Vilets Blick war nur schwer auszuhalten für Tiscio, deswegen nahm er das freundliche, leicht amüsierte Lächeln, dass um ihren Mund spielte, schlechter auf, als er eigentlich gewollt hatte.
"Ich kann dich bestimmt vieles lehren. Aber das kann dich jeder andere hier auch. Selbst deine Freunde. Selbst Walde. Jeder kann etwas von jemand anderem lernen. Aber warum solltest du mir so sehr vertrauen, dass du meine Lehren beherzigst? Ich bin nur eine einfache Frau, die im Tempelbezirk herumsitzt und Panas ausschenkt."
Tiscio starrte Vilet ungläubig an. "Aber sie können in die Zukunft sehen und haben uns mit Alna geholfen. Sie sind viel klüger als unsere Lehrer und als meine Mutter sowieso." Jetzt senkte er seinen Blick wieder und nuschelte "Und sie hören mir zu."
Vilet antwortete nicht sofort. "Du schmeichelst mir, aber ich muss dir sagen, dass das meiste, was du über mich denkst, nicht ganz der Wahrheit entspricht." Sie blickt nach unten und Tiscio konnte ahnen, dass sie lächelt.
"Ich kann nicht in die Zukunft sehen. Ich habe Ahnungen und achte auf Dinge, die andere nicht wahrnehmen. Ja, ich habe euch geholfen, aber ich habe euch nur einen Weg gezeigt, den ihr gehen konntet und von dem ihr nichts wissen konntet. Und ich bin gewiss nicht besonders klug. Aber ich höre dir zu, das ist wahr. Ich höre fast jedem zu, denn ich habe festgestellt, dass es sich immer lohn. Bevor du aber Ratschläge von mir hörst oder irgendetwas von mir lernen kannst, sollst du wissen, dass ich, wenn ich irgendwo anders als hier in Xpoch leben würde, von den Hetradoniden als Ketzerin hingerichtet würde. Das muss dir klar sein, wenn du dich auf das einlässt, was ich zu sagen habe."

Die Kinder aus der Feldstrasse, 02