Die Brennerbande, Teil 108


Nicht nur Gunnar bemühte sich dringlichst, mehr über den Speer zu erfahren. Anders als die anderen Waffen und Gerätschaften seines Vaters, die er in letzter Zeit kennen gelernt hatte, war er neu, sauber und, wie es schien, unbenutzt.
"Ich dachte so bei mir, dass wir vielleicht noch etwas für den Nahkampf benötigen. Und da erschien mir ein Speer angemessen. Man kann sich verteidigen, lässt aber den Gegner nicht zu nah an sich heran." Er nahm die Waffe auf und zeigte auf die Spitze des Speers: "Hier ist eine Öffnung, und dort", er deutete auf zwei Knöpfe im Griff, "kann man einstellen, ob gerade etwas aus den Kammern mit der Silberflüssigkeit oder mit den Eisenstückchen herauskommt. Natürlich alles vermischt mit Weihwasser." Er lächelte zufrieden, behielt den Speer jedoch in der Hand, obwohl Gunnar ihn sich doch so gerne genauer angesehen hätte.
Nun traf auch Unterschnitt ein und kam ohne Umschweife zur Sache: "Seid ihr auch alle schön dreckig?"
Die Feldstraßler sahen sich gegenseitig ins Gesicht und betrachteten ihre sauberen Hände. Sie fühlten sich ganz klar auf den Arm genommen.
Linnbeth zog eine Flasche mit einem Zerstäuber heraus und begann ihre Freunde mit etwas zu besprühen, das auf den ersten Blick kaum etwas zu verändern schien. Als Allinver die Blicke der Jungs beobachtete, lachte er. "Wir nennen es Dreckspray. Man wirkt dreckiger, man riecht dreckiger. Die meisten Menschen achten dann nicht mehr auf einen. Oder vielmehr vermeiden sie einen. Können wir im Ingen brauchen."
"Für den Ingen bräuchte jeder von uns zehn Flaschen", widersprach Walvolker, aber Linnbeth sprühte weiter: "Halt still, du großer Trottel. Es wird schon reichen. Wir müssen ja nicht ewig dort bleiben."
Was stimmte, sich aber für die Jungs nicht so anfühlte.

Die beiden Ingenstadtteile hatten sich seit ihrem letzten Besuch nicht verbessert, eher im Gegenteil, da das Chaos der Anschläge in der Innenstadt auch hierher geschwappt war. Daher schlichen sie von einem Schatten zum nächsten, denn trotz des Sprays waren sie immer noch zu auffällig mit dem, was sie mit sich schleppten. 
Vor allem der Speer stach heraus, lang, glänzend und neu wie er war. Auch die Handschuhe, mit ihren Kabeln und dem Kasten am Gürtel, waren zu aufsehenerregend, um unbemerkt zu bleiben. Daher begann Gunnar, sobald er die nächste Matschpfütze fand, den Speer, den sein Vater ihm anvertraut hatte, so dreckig zu machen, wie er es konnte und wagte. Die anderen Feldstraßler taten es ihm nach, waren jedoch weniger vorsichtig, sodass sie ein paar Minuten benötigten, um Tiscios Kurbel wieder frei zu bekommen.
Anschließend wurden sie weniger aufmerksam beobachtet, waren jedoch immer noch sehr vorsichtig in ihren Bewegungen, bis Unterschnitt sie zur Seite nahm, ein paar fremdartige Laute von sich gab und mit den Händen wedelte. "Das sollte uns ein wenig verbergen", war sein einziger Kommentar, was wenig vertrauenerweckend war, selbst aus dem Mund des berühmten Mannes, da die Mitglieder der kleinen Gruppe sich weder anders fühlten noch einen Unterschied sehen konnten.
Ihre Umgebung schien jedoch etwas zu bemerken, oder vielmehr sie nicht mehr zu bemerken, sodass die Eindringlinge unbehindert zu dem Haus gelangten, welches Netfred ihnen beschrieben hatte. "Eine Flasche Dreckspray vergeudet", murmelte Linnbeth verärgert. "Das hättest du schon früher machen können, Apfelhelm."
Wie fast alle Gebäude im Ingen war das Haus, vor dem sie jetzt standen, baufällig, häßlich und gefährlich mehrstöckig. Die meisten wurden jedoch noch so weit von ihren Bewohnern oder, in selteneren Fällen ihren Besitzern, instand gehalten, dass man mit Vorsicht die oberen Stockwerke verwenden konnte, ohne beständig fürchten zu müssen, beim nächsten Schritt durch den Boden zu brechen.
Dieses Haus wurde nur im Erdgeschoss und vielleicht im Keller bewohnt, was wohl auch der Grund dafür war, dass die Männer, die hier ihre Nachrichten austauschten, es ausgewählt hatten.
Die Gruppe quetschte sich nach und nach durch die morschen und zerbrochenen Bretter, die die Eingangstür ersetzten. Anschließend gingen sie im Gänsemarsch die Treppe hinauf, ganz dicht an der Außenwand, da selbst die Stufen, die nicht zerbrochen waren, den Eindruck erweckten, mehr aus Löchern als aus Holz zu bestehen.
Als sie im zweiten Stock angelangten waren, konnte man einige Kehlen deutlich ausatmen hören. Die Schritte über die Dielen waren immer noch vorsichtig und sehr langsam, suchend, aber auch leise, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen.
Die Suche an sich gestaltete sich allerdings recht unspektakulär. Sie fanden die Wand, eine Stützwand, die auch noch stehen würde, wenn das halbe Gebäude eingestürzt war. Entsprechend stand sie recht einsam in der verrotteten Etage.
Auch der Stein war schnell gefunden und Unterschnitt zog ihn heraus, ohne in dem Loch dahinter etwas zu entdecken. Er hielt sich aufrecht, überblickte seine Gefolgschaft und schien zu überlegen, seine Enttäuschung war jedoch deutlich spürbar. Langsam ging er die Wand entlang, tastete dabei die Steine ab.
Gunnar nutzte die Gelegenheit, selbst in das Loch zu blicken und alles, was er darin an Staub und Krümeln finden konnte, in einen seiner Beutel zu füllen. Wer konnte schon wissen, was er mit ein paar Chemikalien aus ihnen herausholen konnte. Gerade, als er seinen Fund wegräumen wollte, kam ein Geräusch von der Treppe.
Jemand begann mit leichtfüßigen aber langsamen Schritten die Stufen hinaufzusteigen, ohne Hast, aber auch ohne zu zögern - eine Bewegung die so vollständig anders war, als jene der Gruppenmitglieder, die den Geräuschen lauschten.
Nach dem ersten Schock, wandten sich alle Blicke Unterschnitt zu, der weiterhin ein Ohr in Richtung der Treppe hielt. Schließlich winkte er Malandro zu dem wackligen Treppengeländer, der jedoch nur eine schmächtige Gestalt in einem verschlissenen Mantel erkennen konnte. In Anbetracht dessen, mit wem man es in Xpoch alles zu tun bekommen konnte, sagte eine solche Beschreibung wenig darüber aus, wen oder was man zu erwarten hatte. Auf jeden Fall konnte man nichts verkehrt machen, wenn man vorsichtig war.
Unterschnitt machte ein paar scheuchende Bewegungen und die Erwachsenen verschwanden so gut es ihnen möglich war hinter der Wand, Haufen von Schutt und vergessenem Müll. Die Jungs folgten ihnen, nachdem sie den davonhuschenden Männern sowie Linnbeth nachgeblickt hatten.

Malandro hatte sich hinter einem Haufen verkrochen, von wo aus er einen guten Blick auf den Aufgang hatte, sobald er sich ein wenig aufrichtete. Immer wieder verschwand er hinter seiner Deckung, kam aber gerade rechtzeitig hoch, um zu sehen, wie die Gestalt die letzten Stufen hinaufkam. Die Bewegungen waren die einer Frau, so viel konnte er erkennen, auch wenn sich die Gestalt gebückt hielt.
Sobald sie beide Füße sicher auf dem morschen Boden aufgestellt hatte, drehte sie sich langsam im Kreis, als würde sie die Dunkelheit durchsuchen. Dann murmelte sie einige unverständliche Worte, streckte ihre rechte Hand aus, mit der Handfläche nach oben, und eine hell leuchtende Flamme erschien wenige fingerbreit über ihrer Hand. Langsam bewegte sich das Licht von der Magierin fort und erhellte immer mehr des Schutts.
"Herr Unterschnitt? Ich denke, sie könnten meine Hilfe benötigen."
Die Stimme bestätigte Malandros Vermutung, dass dieser Besucher eine Frau war, eine Frau, die er kannte.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 05