Die Brennerbande, Teil 105


"Du kannst hier nicht rein, Junge."
"Ich will zu meiner ... Familie!" Tiscio keuchte. Er war nicht geneigt, über solche Sachen nachzudenken, aber hätte er es getan, hätte er sich vielleicht gefragt, ob er überhaupt einmal auf dem Weg zurück zur Konditorgasse geatmet hatte. Gegen jede Vorsicht war er sogar an Bertis vorbeigerannt, ohne auf ihre Rufe zu achten, was ihn mehr als verdächtig machte.
Aber alle hatte er abgehängt, nur um jetzt von dem raupenbehelmten Mann am Eingang von dem aufgehalten zu werden, was vor wenigen Stunden noch das Haus ihres Gastgebers gewesen war. Tiscio holte tief Luft und bereitete sich für einen Angriff auf den Berti zu vor, in einem verzweifelten, gedankenlosen Versuch, zu seiner Familie zu gelangen. Zu seiner Überraschung verlor das Gesicht des Metrowächters jedoch an Härte und zeigte so etwas wie Mitgefühl, fast ein mitleidiges Lächeln.
"Mutter und Tochter Cano? Du bist der Sohn?" Tiscio schnaufte immer noch, weswegen er nicht mehr als ein Nicken zustande brachte.
"Sie sind bei Frau Elmaiga." Er beugte sich vor und deutete nach links. "Die zweite Tür auf dieser Seite." Tiscios nicken war jetzt kräftiger und er brachte sogar ein Lächeln hervor, selbst wenn keine Freude darin lag.
"Können se ... können se mir sag'n, wo Herr Soldrang is'?"
Zuerst schien der Berti nichts mit dem Namen anfangen zu können, schließlich kam jedoch die Frage: "Der Buttler? Nicht wahr? Er sitzt in der Küche. Er sagt, er wartet auf seinen Herrn."
"Ich komm' von Herrn Unterschnitt."
"Ich dachte, du wolltest zu deiner Familie."
"Ich muss auch zu Soldrang, ich mein Herr Soldrang. Nachricht von Herrn Unterschnitt."
Weitere Blicke wurden ausgetauscht, der Berti konnte jedoch nichts in dem roten, erschöpften Gesicht sehen, dass ihm etwas über den Wahrheitsgehalt der Worte verraten konnte.
"Gut. Dann geh rein."

Tiscio fand Soldrang wie beschrieben in der Küche. Er saß auf einem Stuhl und trat gerade den Einbrecher gegen das Bein. Der Mann war an eines der Beine des schweren Küchentisches gefesselt und stöhnte gelegentlich durch seinen Knebel.
Sobald er Tiscio sah, sprang der Buttler auf und stellte sich ihm in den Weg.
"Haben se ihn ausgequetscht?"
"Dies ist eine Aufgabe, die ich Herrn Unterschnitt überlasse. Geh ich recht in der Annahme, dass Herr van der Linden ihnen die Ereignisse berichtet hat."
Anstatt zu antworten machte Tiscio einen Schritt auf den Gefangenen zu. Wie eine eiserne Schranke schnellte Soldrangs Arm hervor und hielt ihn auf.
"Lassen sie mich durch!"
Sie sahen sich nur kurz in die Augen, denn Tiscio konnte dem forschenden Blick nicht standhalten.
"Wir foltern nicht."
Tiscios Körper spannte sich an und er versuchte erneut an dem Buttler vorbeizukommen, welcher sich nun jedoch vor ihn stellte.
"Wir foltern nicht."
"Herr Unterschnitt tut es."
"Wir nicht."
Tiscio riss sich los und schwang mit der Rechten nach dem Erwachsenen. Soldrang fing den Arm mühelos ab und fasste den Jungen in einem Klammergriff, der Tis wenig Bewegungsfreiheit übrig ließ. Er zappelte ein wenig, konnte jedoch nicht verhindern, dass der Buttler ihn die Treppe hoch, den Flur entlang und aus der Tür hinaus zerrte. Erst dort ließ er ihn los.
Tiscio drehte sich um und brüllte: "Ich muss doch was tun!"
Soldrangs Antwort ließ einen Moment auf sich warten, bis er endlich sprach: "Nicht so. Wir werden den wahren Schuldigen finden. Aber nicht so."
"Aber er is' doch einer!"
"Trotzdem werden sie ihn nicht anfassen, Herr Cano."
"Was soll ich denn tun?"
"Gehen Sie zu ihrer Familie."
"Ich kann nich'."
Der Berti, der die ganze Zeit die Tür bewacht hatte, sah den beiden zu, ohne wirklich zu begreifen, was vor sich ging. Er hatte jedoch ausreichend Trauer auf den Straßen gesehen, um dem Jungen mit Mitleid nachzublicken, als jener sich auf den Weg zu seiner Familie machte.

Dabei hätte Tiscio nicht einmal selbst sagen können, warum er die Begegnung mit den Resten seiner Familie so sehr fürchtete.
War es die Trauer seiner Mutter und seiner Schwester, die er sich kaum auszumalen wagte? War es seine eigene Trauer, die er ihnen gegenüber nicht einzugestehen wagen würde? Oder war es die Scham, dass er sie aus der dreckigen Feldstraße in die trügerische Sicherheit der besseren Stadtviertel geführt hatte?
Er zögerte vor der Haustür. Er zögerte im Hausflur. Er zögerte sogar noch im Eingang zum Raum, in dem seine Mutter, seine Schwester und Walde untergekommen waren.
Trotzdem konnte er seiner Mutter nicht antworten, noch wusste er mehr zu sagen als "Keine Ahnung", als seine Mutter ihn nach dem "Warum" fragte.

Sowohl Gunnar als auch Malandro hatten sich auf dem Rückweg immer wieder gefragt, wie es ihrem Freund wohl gehen mochte. Gunnar hatte in den letzten Tagen mehr erlebt, als er sich je zu erleben gewünscht hatte. Er hatte gedacht, spätestens die Ereignisse im Hai hätten ihn abstumpfen lassen, aber nichts hatte ihn darauf vorbereitet, dass er jemanden aus seinem Freundeskreis verlieren könnte. Wie dumm er doch war, an so etwas nicht gedacht zu haben. Wie hatte er glauben können, dass sie verschont bleiben würden, dass bei all den Toten, die sich in Xpoch anhäuften, keiner dabei sein würde, den er kannte.
Trotzdem blieb es dabei, dass er kaum glauben konnte, wie erschüttert er war. Dabei hätte er nur zu Malandro blicken müssen, um zu sehen, dass niemand so schnell abstumpfte. Denn auch Malandro wusste nicht, wie er mit seinen Gefühlen umgehen sollte, selbst nachdem er die Gräuel des Kinderschlitzers gesehen hatte. Nichts hatte ihn darauf vorbereitet, nicht der ständige Tod, den zu viele Geburten, der allgegenwärtige Alkoholismus und auch die Arbeit in den Fabriken mit sich brachten. Weder die Brutalität der Terroristen noch ihre Arbeit für Unterschnitt, nichts.
Er war ein Feldstraßler, einer der Ärmsten dieser Stadt, auch wenn er und seine Freunde immer sehr viel Wert darauf gelegt hatten, dass sie keine Ingener waren. Trotzdem war er noch zu jung, um bereits seine Hoffnungen vergraben zu haben, weswegen ihn die Hoffnungslosigkeit dieses Todes so schwer traf.

Vielleicht war es auf diesem Weg nur gut, dass Unterschnitt die beiden nicht sehen konnte. Zumindest dachten sie später so darüber, denn es wäre ihnen peinlich gewesen so von ihm gesehen zu werden. In diesem Augenblick dachten sie jedoch nicht an den berühmten Mann, selbst wenn sie sich zuerst noch gewundert hatten, warum er zurückgeblieben war. Nur Kargerheim ging mit ihnen zurück, um seinem Partner die Möglichkeit zu geben, für seine Rettung im Tempel angemessene Dankgebete zu sprechen. Ein guter Bürger war auch ein guter Hetradonide sein. Der Schein musste gewahrt werden.

Die Kinder aus der Feldstrasse, 05